Inselzauber
heute ist dieses Lied für mich untrennbar verknüpft mit dem bislang traurigsten und einsamsten Tag meines Lebens. An den weiteren Verlauf der Trauerfeier habe ich kaum mehr eine Erinnerung. Ich sehe nur noch schemenhaft Gesichter, die sich zu mir herabbeugen, ihre Münder unfähig, das Unfassbare zu formulieren und die Erschütterung in Worte zu fassen. Ich spüre Hände, die mir durchs Haar oder über den Kopf strichen, meinen Arm berührten, als könnten sie damit einen Teil der Trauer wegwischen und mit sich fortnehmen. Und ich sehe Bea weinen um ihren geliebten jüngeren Bruder, zu dem sie immer eine besonders innige Beziehung gehabt hatte.
Bitte lass Bea nichts passieren, denke ich und starre weiter auf mein Handy. Was, um Himmels willen, soll ich jetzt tun?
»Bin gleich wieder da«, sage ich zu Nele, die sich einen Moment von Valentin gelöst hat, weil sie merkt, dass etwas nicht in Ordnung ist.
Ich gehe vor der Friesenwirtschaft so lange auf und ab, bis ich Empfang habe, was auf Sylt gelegentlich etwas schwierig ist. Weshalb, habe ich noch nicht herausgefunden. Ich hoffe sehr, dass Veros Nachricht nicht schon mehrere Stunden alt ist und mich erst jetzt erreicht hat, denn gerade der Strand scheint ein einziges Funkloch zu sein, was ich prinzipiell gut finde. Timo ist mir hinterhergetrottet und streicht mir nun um die Beine, fast wie eine Katze. Er spürt, dass etwas nicht in Ordnung ist, und schleckt mir mit seiner breiten Zunge über den Handrücken, während ich ihm gedankenverloren den Kopf streichle.
»Bitte, Vero, geh ran«, flehe ich innerlich, weil ich die Ungewissheit nicht aushalte.
Dann habe ich Glück und erwische die Freundin meiner Tante, die umgehend zu weinen beginnt, als sie meine Stimme hört. Unter Tränen erzählt sie bruchstückhaft, dass Bea offensichtlich unerlaubterweise in einem See gebadet und sich dort durch ein Insekt infiziert hat. Dieser Blutegel, oder was auch immer es gewesen sein mag, hat sich in ihr Bein gefressen, was zum einen zu einer fieberhaften Entzündung und zum anderen zu einer Blutvergiftung geführt hat.
Natürlich ist meine Tante nicht gegen Tetanus geimpft, weil sie präventive medizinische Maßnahmen grundsätzlich ablehnt. Ich war damals schon froh, dass Vero sie zumindest von einer Malaria-Prophylaxe hatte überzeugen können. Derzeit wird Bea in einem Krankenhaus in Bombay behandelt, und es ist noch unklar, wann sie transport- und reisefähig sein wird. Ihr Zustand ist kritisch, und die nächsten Tage werden entscheiden, ob und wann sie über den Berg sein wird. Meine Gedanken überschlagen sich, und mein erster Impuls ist, sofort einen Flug nach Indien zu buchen, um an Veros und Beas Seite sein zu können.
»Nein, lass das bitte, Kindchen«, wehrt Vero meinen Vorschlag umgehend ab. »Du kannst hier momentan sowieso nichts tun, und ich bin ja bei ihr. Ich melde mich, sobald es etwas Neues gibt, das verspreche ich. Nun mach dir bitte keine Sorgen, es wird schon alles gut werden. Du kennst doch deine Tante. Die ist zäh wie Leder, die kriegt keiner so schnell unter, schon gar nicht so ein dummer, kleiner Blutegel!«
Mit diesen Worten verabschieden wir uns, und ich verspreche Vero, mein Handy Tag und Nacht anzulassen und mich in den nächsten Flieger zu setzen, falls es Probleme gibt. Oder falls … Den Gedanken, dass Bea es vielleicht nicht schaffen wird, versuche ich gar nicht erst an mich heranzulassen.
»Alles in Ordnung mit dir?«, vernehme ich Neles Stimme neben mir, dann löse auch ich mich in Tränen auf.
Die Angst um Bea greift mit kalter Hand nach mir, und ich bin froh, dass Nele mich an sich zieht, in ihren Armen wiegt und mir mit ihrer zarten, weichen Hand das Gesicht streichelt.
»Sch, sch, meine Süße, es wird alles wieder gut«, flüstert sie mir beruhigend zu, als ich ihr in knappen Worten erzähle, was passiert ist.
Auch sie versichert mir, dass Bea in ausgezeichneter Verfassung ist und mit einer solchen Krankheit sicher gut fertig werden wird. Ich schluchze noch ein Weilchen weiter, während mich Timo aus seinen braunen Hundeaugen traurig ansieht, als verstehe er jedes Wort, dann gehen wir zurück ins Restaurant, wo Nele für uns beide einen doppelten Aquavit bestellt. Die Runde ist derart in ein Gespräch vertieft, dass mein Wegbleiben gar nicht weiter aufgefallen ist und somit von niemandem kommentiert wird, was mir ganz recht ist. Umso schneller habe ich die Möglichkeit, wieder in die Realität zurückzukehren und mich ein wenig
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