Inselzirkus
Gewicht wankte, sodass Mamma Carlotta angst und bange wurde. Aber Tanja schien Erfahrung mit diesem Sitzmöbel zu haben. Sie lehnte sich entspannt zurück, obwohl die Rückenlehne nur aus einem schmalen Stoffstreifen bestand, der sich so stark dehnte, dass alle, die sich in Tanjas Nähe befanden, unwillkürlich den Atem anhielten. Doch sie war voller Vertrauen. Unzählige Male war sie von den Dreharbeiten zurückgekehrt, ohne dass dieser Stuhl unter ihr zusammengebrochen war, also würde auch diesmal alles gut gehen.
Mamma Carlotta beobachtete sie heimlich. War Tanja Möck wirklich so zufrieden mit sich und so glücklich in ihrer Anspruchslosigkeit, wie Beate, Kristin und Heidi glaubten? Der winzige Triumph, wenn sie in ihrer Gegenwart einen Schokoriegel verzehrte, wich schnell einer dumpfen Lethargie, und wenn sie sich durch ihre dünnen Haare fuhr, ohne sich darum zu kümmern, dass sie anschlieÃend wie Putzwolle von ihrem Kopf abstanden, kam Mamma Carlotta ihre Gleichgültigkeit manchmal gespielt vor.
Auch jetzt wirkte sie zwar auf den ersten Blick gemütlich und behäbig, doch wer genauer hinsah, konnte manchmal etwas anderes entdecken: ein tiefes Unglück, das durch den Schleier der Leidenschaftslosigkeit schimmerte, den Tanja nie zurückzog.
Beate reichte ihr gerade ein Glas mit einer süÃen Brause, und Kristin suchte aus dem Lieferwagen eine Packung Schokokekse, nach der Tanja offensichtlich verlangt hatte. Der erste Keks war gerade vertilgt, da wandte Tanja sich an Mamma Carlotta, ohne an ihrer bequemen Haltung etwas zu ändern. »Wo bleibt Carolin?«
Mamma Carlotta blickte unruhig auf die Uhr. »Sie muss jeden Moment kommen.«
»Nicht so wichtig.« Tanja Möck winkte ab. »Wenn sie zu spät ist, lassen wir das Skriptgirl über die StraÃe laufen. Wäre vom Alter her sowieso besser.«
Mamma Carlotta nickte bedrückt. Nicht so wichtig! Dass nur Carolin nichts davon erfuhr, in welche Kategorie ihr Auftritt eingestuft worden war! Dann wäre die Chance, dass sie ihrer Nonna verzieh, noch geringer. Warum nur kam sie nicht? Sie war doch sonst die Pünktlichkeit in Person! War es möglich, dass sie so lange mit Alina Olsted über »Minna von Barnhelm« sprach? Lasen die beiden sich gegenseitig verschnörkelte Sätze vor, deren Sinn erst zu verstehen war, wenn man ihn erklärt bekam?
Carolin machte es SpaÃ, sich Gedanken darüber zu machen, was der Dichter wohl hatte ausdrücken wollen, als er sich für Formulierungen entschied, die doppeldeutig und kompliziert waren. Mamma Carlotta dagegen, die sich eigentlich gern von Klugheit und Bildung beeindrucken lieÃ, fand Gotthold Ephraim Lessing mittlerweile mehr wunderlich als bewundernswürdig. Und wenn ihre Enkelin seine Worte im Munde führte, wurde das Kind ihr regelrecht fremd. Erst recht, wenn sie sich dazu kleidete und zurechtmachte, als wäre die Welt der Literatur ein solches Jammertal, dass man ständig Trauer tragen müsse. Manchmal sehnte Mamma Carlotta sich wieder nach der Zeit zurück, in der sich Carolin so unscheinbar gekleidet und frisiert hatte, dass man leicht über sie hinwegsah.
Tove erschien in der Tür von Käptens Kajüte, mit der saubersten Schürze, die Carlotta je vor seinem Bauch gesehen hatte. Anscheinend war er gut vorbereitet gewesen, als Eidam-TV ihm angekündigt hatte, dass seine Kaschemme noch am selben Tag gebraucht werde. Erstaunlich, wie verbindlich Tove sein konnte, wenn er gut dafür bezahlt wurde.
Nun tauchte hinter seinem Rücken Fietje auf, der seine Bommelmütze besonders tief in die Stirn gezogen hatte und aussah, als würde er sich gern unsichtbar machen.
Mamma Carlotta war überrascht. »Ich dachte, Sie wollten mit den Dreharbeiten nichts zu tun haben?«
Fietje versuchte ein freches Grinsen, das ihm nicht besonders gut gelang. »Trotzdem bin ich neugierig, was diese Fernsehfritzen mit Käptens Kajüte machen. Jawoll! AuÃerdem ist mein Freund Busso auch dabei.« Fietje warf Tove einen verächtlichen Blick zu. »Wer sich in die Nähe von Käptens Kajüte traut, darf ja nicht so aussehen wie ein Oberstudienrat.«
»Pass bloà auf, Fietje«, entgegnete Tove, ohne seine zufriedene Miene zu verlieren. »Demnächst ist Käptens Kajüte in der ganzen Republik bekannt. Dann verkehren bei mir auch Oberstudienräte. Weil ich dann nämlich in
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