Inshallah - Worte im Sand - Roman
pfiff.
Auf der anderen Seite der Metalltür waren dumpfe Schritte zu hören. Sie verstummten direkt vor uns. Ich saß in der Falle! Ich fuhr herum und hielt Ausschau nach einem anderen Ausweg, aber die Frau legte mir eine Hand auf die Schulter und drehte mich sanft zu sich um. Ich wollte mich losreißen. Sie zog lächelnd ihre Hände weg und nickte mir zu, als wollte sie mir zu verstehen geben, dass ich in Sicherheit war. Reglos standen wir da und warteten eine Ewigkeit.
Auf der Straße ertönte ein leises Ploppen, dann ein Zischen. Kurz darauf roch ich Zigarettenrauch. Ich hörte ein Husten und schließlich entfernten sich die Schritte.
Nach ein oder zwei Minuten sagte die Frau: »Er ist weg.« Sie musterte mich von Kopf bis Fuß und tätschelte im Anschluss meine Schulter. »Du zitterst ja immer noch. Du hattest sicher Angst, als du die Mauer der Zitadelle hinuntergerutscht bist. Komm mit. Du kannst dich bei einer Tasse Tee erholen.« Sie schob sich in dem engen Gang an mir vorbei. Als ich nicht folgte, lächelte sie mir aufmunternd zu. »Komm mit, mein Kind. Du kannst nicht auf die Straße zurück, denn er wird dich noch suchen.«
Ihr Lächeln und der Klang ihrer Stimme waren tröstlich und merkwürdig vertraut. Vielleicht konnte ich tatsächlich eine Tasse Tee mit ihr trinken.
Ich saß auf einem Plastikstuhl und sah mich in der kleinen Wohnung um. An den Wänden hingen Postkarten, Bilder von Moscheen und den Buddhastatuen im Tal von Bamiyan. Die Frau wandte sich von der Kochplatte ab und reichte mir eine Tasse Tee. Dann setzte sie sich auf das Bett. Außer einem kleinen Nachttisch gab es keine weiteren Möbel. Sie schwieg eine Weile, hielt ihre Tasse mit beiden Händen und wartete darauf, dass der Tee abkühlte.
Auf dem Nachttisch stand das verblichene Foto eines Mannes. Sein Haar war stellenweise ergraut. Er wirkte freundlich und vertrauenerweckend.
Die alte Frau war meinem Blick gefolgt. »Mein Mann«, erklärte sie und fuhr mit den Fingern behutsam über das Foto. »Masoud war ein wunderbarer Mensch. Ich vermisse ihn sehr.« Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. »Hinter dem Vorhang befindet sich meine kleine Schneiderei. In letzter Zeit habe ich alle Hände voll zu tun«, erzählte sie nun weiter. »Tschadris lösen sich auf und viele Frauen lassen ihre alten Kleider aufbessern. Ich arbeite viel.« Sie zuckte mit den Schultern. »Das ist wohl der Fortschritt.«
Ich legte den Kopf zurück, um beim Trinken nicht zu sabbern. In meinem Körper breitete sich eine wohligeWärme aus. »Tashakor«, sagte ich. »Danke, dass Sie mich vor dem Polizisten versteckt haben.«
»Das war das Mindeste, was ich für ein Mädchen tun konnte, das furchtlos auf die Mauer klettert, um seinen kleinen Bruder zu retten.« Sie merkte, dass ich bei der Erwähnung Khalids eine finstere Miene zog, und fragte: »Kommt er langsam in das Alter? Will er endlich ein Mann sein, der nicht mehr auf die Frauen hören muss?«
Woher wusste sie das? »Er hat offenbar von einem auf den anderen Tag beschlossen, mich zu hassen. Er hat mich … beschimpft.«
Die Frau trank noch einen Schluck Tee. »Lass ihm Zeit, mein Kind. Eines Tages wird er Hilfe brauchen oder einen süßen Kuchen wollen, den du gebacken hast, und dann wird er wieder nett sein.« Sie lachte. »Und wer weiß, Zulaikha? Vielleicht ist er eines Tages sogar dankbar, weil du ihn von der Mauer der Zitadelle gerettet hast.« Ich machte große Augen und sie nickte. »Oh, ja. Du kannst dich bestimmt nicht an mich erinnern, aber ich mich sehr gut an dich. Und an deine Mutter.«
»Meine Mutter …«
»Sie war eine großartige Frau. Sie liebte die Bücher. Und die Gedichte.«
Wovon redete sie da? Verwechselte mich die Alte? Aber sie kannte meinen Namen. »Ich will nicht … Ich wollte sagen … Wer sind Sie?«
»Ich heiße Meena. Vor vielen Jahren, vor dem Einmarsch der Sowjets, habe ich an der Universität von Herat afghanische Literatur unterrichtet.«
Mir fiel fast die Tasse aus der Hand. Vorsichtig stellte ich sie ab. »War meine Mutter in Herat?«
»Oh nein, mein Kind.« Sie sprach so leise, dass ich mich vorbeugen musste, um sie zu verstehen. »Als die Sowjets Herat in Schutt und Asche gelegt haben, bin ich mit meinem Mann nach An Daral geflohen.« Sie holte tief Luft. »Und wir waren eine Zeit lang sehr glücklich. Masoud war wunderbar. Er liebte mich. Und er liebte meine Arbeit. Der Krieg hat ihn mir geraubt.« Sie verstummte. Die Stille lastete schwer im
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