Inshallah - Worte im Sand - Roman
Truppen erbeutet hatte. Die örtliche Polizei sollte die Leute eigentlich am Betreten der Zitadelle hindern, schien sich aber keine große Mühe zu geben, denn Kinder spielten immer wieder in der Festung und auf den hohen Mauern.
Als Mädchen war ich nie in der Zitadelle gewesen, aber Najib hatte vor Jahren einmal dort gespielt und danach Zeynab und mir alles erzählt. Baba hatte ihm den Hosenboden versohlt, nachdem er davon erfahren hatte. Die Kanonen und Granaten waren schon gefährlich genug, aber Baba hatte uns auch vor den steilen, rissigen Mauern gewarnt, von denen man leicht abrutschen konnte.
Da es lange gedauert hätte, die Zitadelle einmal zu umrunden, war ich froh, dass ich Khalid schnell fand.Ich war allerdings nicht so glücklich, als ich sah, wo er war und mit wem er sich herumtrieb. Er hockte auf einem hohen Lehmziegelvorsprung der uralten Mauer, fünfzehn bis zwanzig Meter über dem Boden.
Anwar und seine Cousins standen davor unter einer Dattelpalme und sahen zu Khalid auf. »Na, los, du kleiner Hosenscheißer!«, schrie Anwar. »Ist doch kinderleicht. Wenn du zu uns gehören willst, musst du bis ganz oben klettern!«
Es wunderte mich nicht, dass Anwar dabei war. Warum ließ er uns nicht einfach in Ruhe? Ich versteckte mich in einem trockenen Entwässerungsgraben, aus dem ich alles beobachten konnte, ohne von den Jungen entdeckt zu werden. Khalid war schon sehr hoch geklettert, hatte den oberen Rand der Mauer aber noch lange nicht erreicht. Während ich ihm zusah, zitterten meine Beine und meine Hände wurden feucht. Aber was konnte ich tun, so lange Anwar und seine Cousins da waren?
»Worauf wartest du?«, brüllte Anwar. Er nahm einen Stein und schleuderte ihn in Richtung meines Bruders. Der Stein knallte einen Meter unter ihm gegen die Mauer.
Khalid drehte sich um und sah in die Tiefe. Sein Gesicht zeichnete sich bleich vor den dunklen Lehmziegeln ab. Der Zorn, den er mir gegenüber an den Tag gelegt hatte, war verflogen. Seine Unterlippe bebte. Er wischte sich die Augen. Anwar hob noch einen Stein auf. »Ooh! Muss der Kleine etwa weinen?« Er lachte. »Du hast genauso viel Schiss wie Eselgesicht!«
»Nein, habe ich nicht!« Khalid drehte sich wieder zur Wand um, suchte mit zitternder Hand nach einem Halt und kletterte langsam weiter. »Ich bin nur …«
Omar warf einen Stein, der Khalid nur knapp verfehlte. »Weiterklettern, du Hosenscheißer. Los, los.«
»Bitte.« Khalid begann zu schluchzen. »Bitte … hört auf.«
Salman und Anwar warfen noch mehr Steine. Einer traf Khalid am Bein. Er zuckte so heftig zusammen, dass ich befürchtete, er würde abstürzen.
Khalids Gemeinheiten hatten mich noch tiefer verletzt als die Quälereien von Anwar und den anderen Jungen. Kurz dachte ich, dass er jetzt seine gerechte Strafe erhielt. Aber als ich sah, wie Tränen über seine kleinen Wangen rollten, fiel mir wieder ein, wie ich ihn als Baby gefüttert, gewindelt und getröstet hatte. Er war mein Bruder, egal, was er getan hatte. Ich durfte nicht zulassen, dass er sich bei einer albernen Mutprobe verletzte. Ich legte die Tüte mit dem Essen weg und band meinen Tschador zu. Dann griff ich nach einer Wurzel, kam aus meinem Versteck und rannte so schnell wie möglich zur Mauer. »Khalid! Komm runter!«
Anwar und seine Cousins johlten bei meinem Anblick. »Seht mal, wer dem kleinen Hosenscheißer beistehen will.« Anwar schleuderte einen Stein nach mir, der meinen Kopf knapp verfehlte. »Mal schauen, ob du raufklettern und deinen blöden Bruder retten kannst, Eselgesicht!«
Ich nahm den schmalen Pfad, der sich im Mauerspalt ein Stück weit nach oben wand. Um auf den nächsten Vorsprung steigen zu können, musste ich mein Kleid fast bis zu den Knien raffen, obwohl sich das eigentlich nicht gehörte. Dann suchte ich einen Weg, der noch weiter nach oben führte.
Khalid drehte sich um und sah nach unten. Er wischtesich Tränen aus den Augen. »Was tust du da, Zulaikha? Hau ab.«
»Er will aufgeben! Nur weil seine hässliche Schwester ihn runterholen will.« Omar lachte.
Ich beeilte mich. Manchmal kletterte ich steil nach oben, manchmal fand ich einen Pfad, der ein paar Meter höher führte. Die Jungen warfen weiter mit Steinen, die ringsumher gegen die Mauer knallten.
Nach kurzer Zeit hatte ich Khalid fast erreicht. »Gleich über deinem Kopf ist eine Stelle, an der du dich festhalten kannst«, rief ich. »Probier es.« Ich drückte mich gegen die Lehmziegel und bat Allah, mich nicht fallen zu
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