Inside Anonymous: Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands (German Edition)
anzeigten. Sie hatte behauptet, es sei eine virtuelle Installation gewesen, womit die Uhr dann nicht richtig gestellt gewesen wäre. Topiarys virtuelles Betriebssystem war ebenfalls auf GMT –8 Stunden eingestellt. Zudem war Kaylas Desktop ziemlich mädchenhaft arrangiert. Bunte Sternchen dienten als Hintergrund für ihr Host-Betriebssystem, Regenbogen für ihr virtuelles OS und ein Mädchen im Mangastil für ein Terminalfenster – vielleicht allzu mädchenhaft für ein Mädchen, aber dann wäre Topiarys Desktop wohl auch etwas zu männlich gewesen: Er zeigte eine Collage aus Comics zu Haifischen und eine andere mit einer großen Slenderman-Figur – eine mythische Kreatur, die vor einigen Jahren auf einem Imageboard aufgetaucht war – im schwarzen Anzug und mit roter Krawatte.
In der Online-Welt wimmelt es von durchtriebenen Lügnern und Lügnerinnen. Topiary erinnerte sich an ein Mädchen in einem alten IRC-Netzwerk, das allen online weismachte, es sei mager, indem es gefälschte Fotos vorzeigte und abwehrend reagierte, sobald die Unterhaltung auf Essstörungen fiel. Einmal erzählte sie einer Gruppe Leuten in einem IRC-Kanal, sie gehe jetzt aus dem Haus, um sich eine Tätowierung verpassen zu lassen. Drei Stunden später meldete sie sich online zurück mit dem hochgeladenen Foto eines mageren menschlichen Rückens, der komplett mit auftätowierten Flügeln bedeckt war. »So sieht sie aus«, behauptete sie. Topiary wurde sofort misstrauisch. Er lud das Foto in die Website tinexe.com hoch und startete eine Suche nach gleichen oder ähnlichen Abbildungen, um nachzuschauen, ob das Foto im Web bereits aufgetaucht war. Und tatsächlich fand es sich überall und war folglich unecht. Am Ende landete er bei einer Videosite und einem Account, der noch ein weiteres Avatarbild (ein Gemälde) beinhaltete, welches das Mädchen in ihrem Skype-Account benutzt hatte. Ein Video zeigte ein übergewichtiges Mädchen, dass Ukulele spielte. Die Stimme und die Angaben zum Alias deckten sich. Topiary hatte kurz gelacht, die Einzelheiten aber für sich behalten. Er wollte ihre Online-Existenz nicht zerstören.
Er dachte darüber nach, mit seinem Nickname wieder im öffentlichen Netz aufzutreten, ihn auf Twitter und im AnonOps IRC zu nutzen, auch wenn ihm klar war, dass er dann umso leichter verhaftet werden könnte. Aber er brauchte einen kleinen Anschub, so wie er bei Sabu Überzeugungsarbeit hatte leisten müssen, um die Gruppe wieder zusammenzubringen. »Warum bist du so lange bei ›Kayla‹ geblieben?«, fragte er Kayla. »Mich hat nie jemand gedoxt«, antwortete sie. »Es macht doch Sinn, einfach den Namen zu behalten.« Die Leute, so fügte sie hinzu, würden immer versuchen, den Nickname Topiary zu doxen. »Aber solange deine persönlichen Daten nicht bekannt geworden sind, kannst du einfach Topiary bleiben und den ganzen Neidern ›Fuck you‹ sagen.« Kaylas Mantra lautete, alles zu unternehmen, um technisch auf der sicheren Seite zu sein, und über diejenigen, die einem misstrauten, einfach hinwegzugehen.
»Kayla hat an dem Tag einfach überzeugt«, sagte Topiary später. »Ihre schlichten, aber einleuchtenden Argumente begeisterten mich: Niemand wusste, wer sie war. Warum sollte sie sich unter Druck fühlen, ihren Namen zu ändern? Auf die Art verpasste sie denen, die meinen, sie müssten Leute doxen, dreist eine aufs Maul. So ungefähr nach dem Motto: ›Ja, da bin ich wieder, ihr Idioten, und?‹ Das war doch genial.« Topiary hatte in den letzten beiden Monaten ständig neue Nicknames wie Slevin oder Mainframe genutzt und jede Äußerung zu vermeiden versucht, die eine Verbindung zu Topiary hätte verraten können. Jetzt reichte ihm der Stress. Vielleicht täte es ja ganz gut, wenn ein Teil der Urheberschaft dessen, was bald passieren würde, mit seinem Online-Namen in Verbindung gebracht wurde. Ihm passte es überhaupt nicht, wenn die Leute meinten, Topiary sei verhaftet worden und habe ausgepackt.
Also öffnete er seinen alten persönlichen Twitter-Account @atopiary wieder und postete einen Tweet. Im Chatroom #anonleaks im AnonOps IRC brach Begeisterung aus. Manche äußerten den Verdacht, die Person hinter dem Account könne ein Spion sein – typisch Anonymous. Topiary wusste, dass die Gerüchte bald verstummen würden. So war es ja immer.
Mitte Mai brachte die Nachrichtensendung Frontline des Public Broadcasting Service (PBS) eine Dokumentation über WikiLeaks, die Sabu überhaupt nicht gefiel. Sie rückte
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