Inside Anonymous: Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands (German Edition)
gewesen war. Schon bald unterhielt er seine Freunde täglich mit Telefonstreichen. Er fand zwei oder drei Mitstreiter, mit denen er zusammenarbeitete, zum Beispiel jemanden aus London, mit dem er Vater und Tochter spielte, die einen Beratungsnotruf anriefen und sich am Telefon furchtbar stritten. Alles war improvisiert; manchmal fiel ihm erst ein, was er sagen wollte, wenn das Telefon bereits klingelte. Er suchte nach immer frecheren Methoden, um seine Opfer zu verwirren, zu empören oder zu ängstigen. Es war wie eine Fernsehserie, die immer neue Ideen brauchte, um die Zuschauer bei der Stange zu halten. Bald zogen Jake und seine Freunde auf eine Webseite namens TinyChat um, bei der Dutzende von Usern gleichzeitig den Telefonstreichen zuhören konnten.
Inzwischen kannte Jake auch 4chan und das /b/-Forum, in dem ihn vor allem die Streiche und Raids interessierten. Er bemerkte, dass er mehr Zuhörer hatte, wenn er seine Telefonstreiche vorher auf 4chan ankündigte, indem er einen Thread begann und Links zu dem Chatroom postete, in dem der Telefonstreich übertragen wurde, wobei er die User aufforderte, ihrerseits andere darauf aufmerksam zu machen und sie in den Chatroom mitzubringen. Schnell hatten seine Live-Telefonstreiche es auf bis zu zweihundertfünfzig Zuhörer gebracht.
Das Applebee-Restaurant in San Antonio wurde sein Lieblingsziel. Im Laufe eines Jahres ließ er mehrmals zwanzig Pizzen auf einen Streich und Tausende Gratis-Verpackungskartons von UPS dorthin liefern. Ein anderes Mal erhielt er von einem unzufriedenen Mitarbeiter über 4chan die Durchwahl zum Durchsagen-Lautsprechersystem eines Heimwerkerladens in den USA. Jake rief an und gab mit überzeugendem amerikanischem Akzent bekannt, in den nächsten zwanzig Minuten seien alle Artikel gratis. Als er einige Minuten später den Markt wieder anrief, konnte man die Hintergrundgeräusche nur als Chaos beschreiben.
Nach zwei Jahren war der inzwischen vierzehnjährige Jake mit seinen Live-Telefonstreichen und den Raids mit den /b/tards von 4chan voll ausgelastet. Ein erfolgreicher Raid konnte so gut wie jede Seite im Internet zum Ziel haben, aber alle hatten etwas gemeinsam, das sich bis heute kaum geändert hat: Sie waren ein Massenphänomen. Ob es darum ging, ein Forum massenhaft mit schockierenden Bildern zu verstopfen, eine Webseite durch Überlastung offline zu bringen oder die Abstimmung zur »Person des Jahres« der Zeitschrift Time – oder auch über die beliebteste Figur eines Videospiels – zu manipulieren: immer schlossen sich die /b/-User bei den Raids zusammen und suchten jemanden bis zur Peinlichkeit heim. Die Stärke lag in ihrer großen Anzahl. Je mehr mitmachten, desto größer der Effekt.
Der erste wirklich wichtige Raid von 4chan aus war wohl der gegen Habbo Hotel am 12. Juli 2006. Habbo war eine beliebte Spiel- und Chatseite, die als virtueller Jugendtreff gedacht war. Wenn man sich einloggte, sah man verschiedene Räume des Hotels aus der Vogelschau und konnte sich mit seinem Avatar, einem selbst erschaffenen Stellvertreter, dort umsehen und mit den Avataren anderer Nutzer sprechen.
Eines Tages tauchte auf 4chan die Idee auf, die virtuelle Welt mit Massen des gleichen Avatars zu überschwemmen, eines Schwarzen im grauen Anzug mit Afrofrisur. Die Afro-Männer sollte sich dann zusammenrotten, den Zugang zum Swimmingpool sperren und den anderen Avataren erklären, der Pool sei wegen »technischen Versagens und Aids-Verseuchung geschlossen«. Nichtsahnende Habbo-User, die sich einloggten, fanden daraufhin eine virtuelle Welt voller schicker Discotänzer vor. /b/ zehrte noch lange vom Großen Habbo-Raid von 2006, und das Mem »Der Pool ist geschlossen« entstand. Noch jahrelang kehrten Gruppen von 4chan-Usern in Gestalt ihrer afro-frisierten Avatare immer am 12. Juli ins Habbo Hotel zurück; manchmal stellten sie sich dabei in Form eines Hakenkreuzes auf.
Als Jake sechzehn und seit drei Jahren aus der Schule war, nahm er an den 4chan-Raids nicht mehr nur teil, sondern organisierte sie; so war er zum Beispiel einer der Ideengeber für die Operation Basement Dad 2008, die sich auf den österreichischen Ingenieur Josef Fritzl bezog. Fritzl hatte seine Tochter vierundzwanzig Jahre lang in einem geheimen Kellerverlies eingesperrt, sie immer wieder vergewaltigt und sieben Kinder mit ihr gezeugt. Dieses monströse Verbrechen sorgte weltweit für Erschütterung; Fritzls Prozess war wochenlang in den Schlagzeilen. Natürlich sah 4chan die
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