Inside Anonymous: Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands (German Edition)
Welt« verliehen wurde, die auf Yell sehr berühmt war. Den Sieg empfand Jake ziemlich ambivalent – er wollte ja gar nicht stricken lernen, er wollte etwas lernen, das ihn herausforderte.
Die Schule und das tägliche Herumsitzen in der Klasse erschienen ihm immer sinnloser. Als er auf die Mid Yell Junior High School wechselte, wurde er aufrührerisch. Er griff die Argumentationsweise seiner Lehrer an und nahm nur dann am Unterricht teil, wenn einer von ihnen behauptete, er sei zu dumm für die betreffende Aufgabe. Mit Streichen schuf er einen Ausgleich für seine Frustration.
Eines Tages löste er den Feueralarm aus und blockierte dann gemeinsam mit Klassenkameraden den Eingang zur Halle, indem er schwere Möbelstücke davorschob und Schüler und Lehrer an der Rückkehr ins Gebäude hinderte. Er wollte nicht etwa die Mitschüler beeindrucken, sondern einfach ein bisschen Aufruhr erzeugen und Sachen ausprobieren, die sich noch keiner getraut hatte. Als er in die Pubertät kam, rieten die Lehrer seiner Mutter dringend, er brauche einen größeren Freundeskreis. Jake erschien ihnen emotionslos, kalt und unverschämt.
Im Februar 2004 kam sein Stiefvater Allie bei einem tragischen Autounfall auf einem der schmalen Sträßchen der Insel ums Leben. Jake war erst dreizehn Jahre alt. Schlimmer war, dass die drei auch ihr Zuhause verloren: Spence’ geschiedene Frau war Eigentümerin des Hauses und warf Jennifer Davis mit den beiden Kindern hinaus. Schließlich fanden sie eine Sozialwohnung – ein Häuschen mit brauner Holzverkleidung mitten auf Yell.
Dieses Erlebnis überforderte Jake. Er entschloss sich, der Schule ganz fernzubleiben. Zu Hause, fand er, war es am besten. Hier konnte er alleine sein. Er wurde zu einem regelrechten Einsiedler. Trotz ihrer Trauer wurde seine Mutter wütend und hielt ihm vor, dass er seine Ausbildungschancen einfach wegwerfe. Aber er wollte nicht mehr von Stundenplänen und vorgeschriebenem Lernstoff eingeengt werden – und auch nicht von seiner Mutter.
Seit er nicht mehr zur Schule ging, beschäftigte sich Jake hauptsächlich mit Videospielen oder lernte unter Anleitung eines Teilzeit-Privatlehrers. Seine Mutter hatte einen Call-by-Call-Internetanschluss installieren lassen, um E-Mails versenden und bekommen zu können, und Jake hatte sie überredet, den Anschluss zu einer schnellen Breitbandverbindung auszubauen. Seit er elf Jahre war, ging er fast jeden Tag ins Internet und entdeckte eine ganz neue Welt. Er lernte, gewann Freunde, lernte durch Freunde. Wenn er sich in Online-Rollenspiele wie RuneScape stürzte, konnte er von den anderen Spielern Tricks abschauen, wie man sich im Netz besser zurechtfand, wie man seine IP-Adresse versteckte, wie man einfache Programme schrieb. Im Netz war es leicht, Freunde zu finden. Niemand sah, dass er schielte, und sein Witz und seine Intelligenz waren hier hoch angesehen. Er fing an, aus sich herauszugehen. Das Gefühl der Gleichberechtigung und Zusammengehörigkeit und der lockere Plauderton gefielen ihm. Als der Internet-Telefondienst Skype aufkam, nutzte er die Möglichkeit, sich mit seinen neuen Freunden auch wirklich zu unterhalten.
Eines Tages schlug jemand einen Skype-Telefonstreich vor, bei dem alle zuhören können sollten. Jake ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen. Er rief bei einer zufällig ausgewählten Walmart-Filiale in den USA an und fragte die Frau am Telefon nach einem »fischförmigen ferngesteuerten Modellhubschrauber«, den er dringend suche. Während er die Verkäuferin regelrecht anflehte, ihm dabei zu helfen, genoss er die Vorstellung, wie seine Freunde gerade vor Lachen (stummgeschaltet natürlich) vom Stuhl fielen. Am nächsten Tag galt sein Telefonstreich einem Applebee-Restaurant in San Antonio, Texas. Der Geschäftsführer wurde so wütend, dass Jake den nächsten Streich gleich folgen ließ: Er forderte mit Falsettstimme einen Krankenwagen an, weil er im Keller des Restaurants gerade in den Wehen liege. Als das Restaurant damit drohte, einen Polizeibeamten einzuschalten, riefen Jake und ein Freund denselben Beamten bei der Polizei von San Antonio an und zeigten den Restaurantgeschäftsführer als Terroristen an.
Jakes Freunde konnten von seinen Telefonstreichen gar nicht genug bekommen. Sie waren gefesselt von seiner Unberechenbarkeit und von der Selbstsicherheit seiner inzwischen zum Bariton gewordenen Stimme. Sie hätten nie geglaubt, dass er ein Jahr zuvor noch ein magerer, unterdrückter Dorfschüler
Weitere Kostenlose Bücher