Inside Anonymous: Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands (German Edition)
sein Großvater Sam Davis dort aus einer Laune heraus ein verfallenes Hotel gekauft hatte, das günstig zum Verkauf gestanden hatte. Jemand hatte dem alten Herrn davon erzählt, er war hingeflogen, um es sich anzuschauen, und schon eine Woche später war er mit seiner Frau Dot dorthin umgezogen. Sam Davis war ein unerschrockener, spontaner Mensch, der gerne Risiken einging. Jakes Mutter, Jennifer Davis, hatte eigentlich jahrelang keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern gehabt, aber als sie zufällig hörte, wo die beiden jetzt wohnten, entschloss sie sich, ebenfalls auf die Shetlandinseln zu gehen.
Zuvor war sie mit ihren beiden Söhnen von einer Pension zur anderen gezogen und hatte erfolglos nach einer dauerhaften Bleibe in Südengland gesucht. Jennifer und ihr Lebenspartner, Jakes Vater, hatten sich im Laufe von sechs Jahren immer wieder getrennt und erneut zusammengefunden. Der Partner wurde immer haltloser, stürzte in die Alkoholsucht ab, faselte von seiner Suche nach Gott und stellte anderen Frauen nach. Eines Tages setzte Jennifer ihren beiden kleinen Kindern je einen Rucksack auf, stopfte ihre Habseligkeiten in ein paar Koffer und machte sich mit ihnen auf die 18-stündige Busfahrt nach Aberdeen (den Zug konnte sie sich nicht leisten), wo die Fähre nach den Shetlands ablegte.
Die drei wohnten jetzt auf einer Insel namens Yell. Das ist die zweitgrößte der Shetlandinseln, aber mit nur neunhundert Einwohnern ist sie immer noch winzig. Es war dort ziemlich trist, und die Entwicklung lag etwa zwanzig Jahre hinter dem Festland zurück. Es gab natürlich elektrischen Strom, aber weder Supermärkte noch Fast-Food-Filialen und erst recht keine richtigen Restaurants. Die ansässigen Jugendlichen nahmen ihre Zuflucht zu amateurhaften Drogenexperimenten, um der Langeweile zu entkommen. Das Wetter war kalt, die Landschaft grau, kaum ein Baum war zu sehen. Einspurige Sträßchen verbanden die steinernen Farmhäuschen inmitten einsamer Felder.
Die Menschen hier lebten isoliert. Der breite Dialekt war für Zugezogene kaum verständlich. Die meisten hatten ihr ganzes Leben auf der Insel verbracht, hatten sie kaum je verlassen und nie etwas anderes als die Lokalzeitung gelesen. Trotz der Landwirtschaft war die Lebensmittelversorgung von einer täglichen Anlieferung mit der Fähre abhängig. Wenn ein Sturm aufzog, der zur Einstellung des Fährverkehrs zu führen drohte, stürmten die Einwohner den örtlichen Laden und hamsterten alle Lebensmittel, die sie bekommen konnten. Die Einwohner der Shetlands hatten weder für Großbritannien noch für Norwegen, die beiden nächstgelegenen Länder, besonders viel übrig.
Das enge Zusammenleben hatte seine Vorteile: Man sorgte füreinander. Bauern und Fischer verschenkten ihren Überschuss oft an die Nachbarn. Nach einigen Jahren hatte Jakes Familie drei Kühltruhen voller Lammfleisch und riesiger Lachsfilets, die so dick waren, dass die Gabel nicht den Teller erreichte, wenn man sie aufspießte. Aber die Einheimischen mochten auch keine Zugezogenen, und für Jake war die Schule kaum zu ertragen.
Jakes Großeltern passten nach der Schule auf ihn und seinen Bruder auf; so konnte die Mutter mehreren Jobs nachgehen, die sie brauchte, damit das Geld zum Leben reichte. Irgendwann fand sie auch einen neuen Lebenspartner, Alexander »Allie« Spence, und zog mit den Kindern bei ihm ein. Jake bezeichnete Allie als seinen Stiefvater. In der Schule wurde er gehänselt. Er war zwar extrem intelligent, aber er schielte auf dem linken Auge. Freunde zu finden war für ihn so schwierig, dass er es schließlich aufgab. Er war ein stilles Kind und hielt sich von den meisten Gleichaltrigen fern. Wenn ihn jemand provozieren wollte, antwortete er mit einem Strom von Beschimpfungen, und wenn andere Kinder ihn auslachten, lachte er mit. Eigentlich war es ihm ziemlich egal, dass er keine Freunde hatte.
Schlimmer waren seine schlechten schulischen Leistungen. Jake merkte, dass die kleine Landschule mit den rund hundert Schülern ihm kaum etwas über die Welt jenseits der Insel vermittelte. Stattdessen gab es Unterricht in der Schafhaltung: Wie bringe ich eine Ohrmarke richtig an? Wie treibe ich das Schaf ins Desinfektionsbad? Zweimal in der Woche fand ein verpflichtender Strickkurs statt, in dem Jake bunte Spielsachen wie Gespenster, Dinosaurier und Mützen produzieren musste. Einer seiner Dinosaurier gewann bei einem örtlichen Strickwettbewerb sogar einen Preis, der von der »schnellsten Strickerin der
Weitere Kostenlose Bücher