Inside Anonymous: Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands (German Edition)
noch in der guten alten Zeit der Usenet-Gruppen wie alt.religion.scientology begonnen, als ausgestiegene Mitglieder die Scientologen durch die Veröffentlichung vertraulicher interner Dokumente gegen sich aufbrachten.
Ein anderer Grund, der generell für die oft willkürlichen Anonymous-Aktionen galt, war einfach, dass sie es konnten. Die Technologie des Internets war inzwischen so weit entwickelt, dass jeder beliebige Nutzer Zugang zu kostenlosen Tools wie Gigaloader hatte und sich am Angriff auf eine Webseite beteiligen konnte. Das Tom-Cruise-Video und die Erstposterin auf /b/ waren bloß im richtigen Moment aufgetaucht. Je länger der Angriff dauerte, desto mehr Menschen hörten davon und nutzten die Gelegenheit. Das »Feuer«, unter dem die Seite Scientology.org lag, ließ nicht nach; wenn ein User den Gigaloader abschaltete, fingen zwei oder drei andere gerade erst an.
Hier begann für Anonymous ein neues Kapitel. Die OP hatte in ihrem zweiten Post geschrieben: »Wenn wir Scientology bezwingen, dann können wir alles zerstören, was wir wollen!« Sie ermahnte 4chan, man müsse als größter Chan mit den meisten Nutzern »das Richtige tun«. Der neue Thread war mit 587 Kommentaren genauso beliebt wie der vom Tag zuvor. Immer wieder wurde der Gebrauch des Gigaloaders erklärt, und viele User meldeten sich einfach mit »BIN DABEI«.
Bald nahmen die Anons auch andere Webseiten der Scientology-Sekte unter Feuer: rtc.org, img2.scientology.org und volunteerministers.org. Schließlich nahm Scientology alle Seiten für vierundzwanzig Stunden vom Netz und verlegte sie auf Mietserver der Firma 800hosting.
Unter den ungefähr zehn Software-Tools, aus denen die Anons für ihre Attacken gegen die Scientology-Seiten wählen konnten, blieb der Gigaloader am beliebtesten. Auf #xenu waren inzwischen so viele Diskussionsteilnehmer eingeloggt, dass es unmöglich wurde, zu irgendeinem Beschluss zu kommen. Wie aus dem Nichts meldete sich dann am zweiten Tag ein männlicher Anon, der außerdem Administrator der Encyclopedia Dramatica war, ganz IN GROSSBUCHSTABEN: »LEUTE, IHR MÜSST UNBEDINGT MIT DER PRESSE REDEN. GEBT EINE PRESSEERKLÄRUNG RAUS. DAS IST EINE GROSSE SACHE.« Bis jetzt hatte noch niemand an ein Öffentlichkeitsarbeits-Team gedacht, und kaum jemand im Chatroom wollte das übernehmen. Ein paar fanden sich aber doch: Mit wenigen Klicks richtete jemand einen Chatroom namens #press ein, gab das auf #xenu bekannt, und fünf Nutzer loggten sich ein. Ganz oben im Chatroom stand das Thema: »Hier geht es darum, wo wir der Presse was sagen.«
Einer der Nutzer im Chatroom #press war ein rundgesichtiger Brillenträger, der in Boston in seinem Schlafzimmer saß, das ihm zugleich als Arbeitszimmer diente. Gregg Housh war freiberuflicher Softwareentwickler und sollte in den nächsten Monaten einer der wichtigsten Organisatoren von Anonymous werden. Ähnlich wie andere trat er später wieder in den Hintergrund, um einer neuen Generation von Galionsfiguren wie Sabu und Topiary Platz zu machen. Housh stammte aus Dallas, Texas, reiste gern, organisierte Telefonstreiche und war Stammgast im Partyvan-IRC-Netzwerk. Er war bestimmend und redselig und gab äußerlich keinen Hinweis darauf, ein Computer-Nerd zu sein.
Noch als Teenager hatte er eine Haftstrafe wegen illegaler Downloads verbüßen müssen. Die Strafe war allerdings laut Gerichtsakten verkürzt worden, nachdem er sich zur Zusammenarbeit mit dem FBI bereit erklärt hatte; außerdem hatte der Richter seine schwere Kindheit als mildernden Umstand berücksichtigt. Houshs Vater hatte sich abgesetzt, als der Junge erst vier war, seine Mutter ging putzen und pflegte zusätzlich eine erwachsene Tochter, die an Epilepsie litt. Housh wollte nicht wieder ins Gefängnis zurück und bemühte sich, sauber zu bleiben, zumal er jetzt selbst eine kleine Tochter hatte. Aber was Anonymous hier mit Scientology machte, faszinierte ihn einfach. Er loggte sich im #press-Chatroom ein und schrieb spontan eine Presseverlautbarung mit dem Titel »Die Internet-Gruppe Anonymous erklärt Scientology den Krieg«; als Quelle wurde ironisch »ChanEnterprises« angegeben. Anonymous übernahm den Text sofort.
Als die anderen Chatteilnehmer die Erklärung lasen, klang sie so dramatisch und überzeugend bedrohlich, dass sie beschlossen, auch noch ein Video daraus zu machen. Ein Mitglied der Gruppe mit dem Spitznamen VSR meldete einen YouTube-Account mit der Bezeichnung »Church0fScientology« an. Dann suchten
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