Inside Anonymous: Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands (German Edition)
bei der Polizei eine Demonstration anmeldet.
Ende März gab es für Chanology neue Webseiten, zu denen auch Diskussionsforen gehörten. Hier traf sich jetzt die Chanology-Gemeinde; beliebt waren zum Beispiel Enturbulation.org und WhyWeProtest.net. Auf 4chan wurde Chanology jetzt gar nicht mehr diskutiert – sie hatte sich dauerhaft auf diese neuen Seiten und in die IRC-Chatrooms verlagert. Die nächsten Monate hindurch hielt Anonymous weiter kleine Protestveranstaltungen überall auf der Welt ab, während Housh dabei mithalf, regelmäßig alle drei Tage ein Strategietreffen in #marblecake zu veranstalten, bei dem es um das weitere Vorgehen gegen Scientology ging.
Diese Treffen konnten, erinnert sich Housh, zwischen drei und sechs Stunden dauern. Er postete eine Tagesordnung, las die Berichte der einzelnen Mitglieder über ihre Aktionen und verteilte Aufgaben von der Webseitengestaltung bis zum Entwerfen eines Flyers und der Suche nach Hintergrundmusik für das nächste YouTube-Video. Die Gruppe versuchte, die Aktivitäten von Anonymous jeweils für den kommenden Monat zu planen. Bis dahin hatte noch niemand die Raids oder Streiche der Gruppe vorausgeplant.
Hier ein Beispiel für ein ›Topic‹ des #marblecake-Chatrooms, laut Chatlog vom Freitag, den 6. Juni:
03[19:44] * Topic is ’press releases, videos, ideas, collaboration, basically things we need done. ||Meeting thursday nights at 9pm EST ||/msg srsbsns for cosnews.net writefagaccounts||you should think of things you hate about the present state of chanology and want changed._’
03 [19:44]* Set by gregg in Fri Jun 06 19:27:08
»Ich fing an, die Sache mit eiserner Hand zu leiten«, erklärt Gregg. »Nur wenige fehlten [bei den Treffen].« Wenn jemand nicht kommen konnte, gab es ein Google-Dokument, in dem das Protokoll nachgelesen konnte.
Im Juni schwand die Motivation allmählich, und in #marblecake wurde jetzt über die Anfangszeit von Chanology im Januar reminisziert. »Das war die gute alte Zeit«, schrieb ein User namens 007 im Juni. »Niemand konnte voraussagen, was IRL [im richtigen Leben] passieren würde. Alle waren voll dabei. Ich wünschte, so viel Begeisterung könnten wir wieder hinkriegen.«
Im Sommer 2008 litt Project Chanology unter Streitigkeiten zwischen den Organisatoren, und die Teilnehmerzahl der Demonstrationen im richtigen Leben, die inzwischen monatlich in großen Städten stattfanden, nahm stetig ab. Housh behauptet, die junge Bewegung habe zu jener Zeit einen Schlag einstecken müssen, als zwei Anons mit den Spitznamen King Nerd und Megaphonebitch die Adresse von #marblecake outeten, die Teilnehmer als »leaderfags« (»Führerschwuchteln«) verspotteten und die meisten dazu brachten, sich zurückzuziehen. In den kommenden Monaten ging dann Chanology nicht irgendwie zu Ende, sondern verlief im Sande. Viele Anons waren inzwischen von Project Chanology gelangweilt, auch wenn es die längste und größte Angriffsserie war, die Anonymous je gegen ein einzelnes Ziel durchgeführt hatte.
Das amerikanische Bundeskriminalamt FBI begann dagegen gerade erst mit seinen Ermittlungen. Ebenfalls im Sommer war es den »Feds«, wie sie bei den Anons hießen, gelungen, zwei der mehreren Hundert Teilnehmer an den DDoS-Angriffen auf Scientology dingfest zu machen. Sie hatten das Pech, als Opferlämmer zu dienen, und waren die Ersten von Dutzenden, die im Lauf der nächsten Jahre festgenommen wurden. Die Anons hatten bis jetzt immer geglaubt, vor Verhaftungen sicher zu sein, weil sie den Behörden verborgen blieben. Einer der Ersten, die den Irrtum erkannten, war Brian Mettenbrink, der gelangweilte Collegestudent, der im Januar 2008 die LOIC-Software ein bisschen zu lange im Hintergrund seines Rechners laufen lassen hatte.
»Brian?« »Was?« Brian Mettenbrink schlief noch auf dem Sofa im Keller, als sein Mitbewohner ihn rief. Es war ein kühler Vormittag Mitte Juli 2008, sechs Monate nachdem er die LOIC heruntergeladen und sich an den allerersten DDoS-Attacken von Anonymous gegen Scientology beteiligt hatte. Er erinnerte sich kaum noch an dieses Wochenende, an dem er sein Wohnheimzimmer kaum verlassen hatte. Inzwischen hatte er sein Luft- und Raumfahrtstudium an der Iowa State University abgebrochen und war mit einigen Freunden in ein großes, erbsengrünes Haus in Omaha, Nebraska, gezogen. Jetzt sah er sich langsam nach einem Job um, weil er mithelfen musste, die Miete aufzubringen.
»Hier sind ein paar Leute, die dich sprechen wollen.«
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