Inside Anonymous: Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands (German Edition)
fuchtelte ein Mann, den einige für einen Scientology-Angehörigen hielten, mit einer Pistole herum. Einer der Demonstranten folgte ihm daraufhin und hielt ihm ein Schild über den Kopf, auf dem »Dieser Mann ist bewaffnet« stand. Emick fiel auf, dass die Proteste umso begeisterter wurden, je stärker Scientology überreagierte. Die Reizbarkeit der Sekte machte sie zum perfekten Opfer.
Als jedoch immer mehr Anonymous-Unterstützer ins Netz stellten, was sie sich über Scientology angelesen hatten, fanden sich weitere Gründe, den Kampf fortzusetzen. »Jetzt dachten die Leute: ›Meine Güte, das sind nicht nur lustige Verrückte, sondern die sind wirklich böse‹«, erinnerte sich Emick einige Jahre später. Als jemand auf eine Liste angeblich ermordeter Scientology-Abtrünniger stieß, war es mit der Fröhlichkeit weitgehend vorbei: Scientology war nicht mehr nur ein lustiges Spielzeug, sondern eine gefährliche Organisation, die nach Meinung der Protestler Bestrafung und Aufdeckung ihrer Taten verdiente. Emick warf sich in den Kampf. Jetzt war die Kampagne vollends die von Aktivisten geworden.
Natürlich gefiel das nicht allen Beteiligten. Anonymous sei schließlich keine Aktivistenbewegung, meinten einige, und verrate mit dieser Entwicklung die ursprünglichen Ziele von Spaß und Lulz. Viele der /b/tards, die zu Anfang den Raid gegen Scientology begrüßt hatten, kritisierten jetzt, er sei von »Moralschwuchteln« übernommen worden.
Einer dieser Kritiker war Wesley Bailey, ein hochgewachsener, schlanker siebenundzwanzigjähriger US-Soldat mit Bürstenhaarschnitt, der im staubigen texanischen Städtchen Killeen als Netzwerkadministrator für die Militärbasis Fort Hood arbeitete. Er hatte sich als Achtzehnjähriger freiwillig gemeldet und war seit neun Jahren Soldat. Im Sommer 2008 war er verheiratet und Vater zweier kleiner Kinder, eines Jungen und eines Mädchens. Sein Familienleben war etwas unkonventionell: Bailey und seine Frau waren Swinger, und er saß stundenlang vor dem Rechner, surfte im Netz und chattete. Als er zufällig auf 4chan stieß, fand er die erzwungene Anonymität merkwürdig und die ungezähmte Kreativität und die schockierenden Bilder verstörend. Er brauchte Monate, um sich an die Phrasen und die seltsamen Pornodarstellungen zu gewöhnen, aber langsam fand er die Seite immer interessanter. Hier konnte man wirklich sagen, was man wollte, egal wie düster oder unangebracht es war. Außerdem gefiel ihm die bürgerwehrartige Selbstjustiz, wenn er sah, wie jemand auf /b/ das Bild eines bekannten Pädophilen postete und damit Dutzende anderer Nutzer dazu brachte, nach dessen Namen und Adresse zu suchen. Er bekam mit, wie aus »Anonymous« eine Gruppe wurde, und sah, dass sie etwas bewirken konnte. Als er eine Reihe Chanology-Posts auf 4chan gelesen hatte, darunter lange Artikel über Scientology, die auch auf anderen Webseiten wie Enturbulation.com zu lesen waren, wurde ihm klar, dass die Streiche und Angriffe des Kollektivs eine neue Ebene erreicht hatten.
Genau wie Emick beteiligte sich auch Bailey an einem der weltweit veranstalteten Proteste am 10. Februar; er nahm in Houston, Texas, teil. Und genau wie Emick gefiel auch ihm die Aktion, aber nicht wegen des guten Benehmens und der Kooperation der Demonstranten, sondern weil es Spaß machte, die Scientologen zu ärgern. Er sah zum Beispiel, wie eine Frau vor einer Scientology-Filiale okkulte Symbole auf den Bürgersteig malte, dann Talkumpuder drumherum streute und flackernde schwarze Kerzen dazustellte. Das sollte den Scientologen Angst machen – es ist bekannt, dass sie schwarzer Magie und allem Okkulten sehr misstrauisch gegenüberstehen. Bailey schloss sich einigen Anons an, die den Scientologen Kuchen anboten, falls sie sich an den Protesten beteiligten. Das war eine Anspielung auf das Mem »Leckerer Kuchen«. Außerdem spielten sie eine Hörbuchfassung der vertraulichen sogenannten OT3-Dokumente der Sekte, die den Scientology-Aspiranten in den Geisteszustand eines »Operating Thetan« versetzen sollen und die man sich als Sektenmitglied erst anhören darf, wenn man dazu »bereit« ist. Bailey fand das alles sehr unterhaltsam.
»Aber dann«, erinnerte er sich einige Jahre später, »hatten sie alle auf einmal keine Lust mehr zu spielen.« Seit Ende 2008 reagierte Scientology einfach nicht mehr auf die Angriffe, und die Demonstrationen und Internet-aktionen versandeten. Bailey und Emick fanden sich mitten in den darauf folgenden
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