Inside Polizei
verkraften, aber in Gorleben bei 15, 20 und mehr Einsatzstunden überstieg die körperliche Qual das gesteigerte Sicherheitsempfinden deutlich.
Das Anlegen kostete Zeit, Minuten, die nicht eingeplant waren, verstrichen, und dies verringerte die für das Frühstück verbleibende Zeit, die so wichtig war, um Vorräte im Körper anzulegen, auf die er im Notfall zurückgreifen konnte.
Die Alarmierung wurde von den Vorgesetzten – was nicht immer geschah – folgendermaßen begründet: Der Castor-Transport hatte die deutsche Grenze überschritten, und es hatten sich erste Blockadeaktionen von Aktivisten ereignet. Zusätzlich meldeten Aufklärungskräfte, dass Tausende Demonstranten im Wendland zu den Gleisen liefen, um diese zu besetzen. Dies galt es unter allen Umständen zu verhindern.
Über welche Möglichkeiten die Einsatzleitung mittlerweile verfügte, um an Informationen zu gelangen und diese auszuwerten, sollten Öffentlichkeit, Demonstranten, Polizisten und Medien erst zwei Wochen nach dem Einsatz erfahren. Die empörten Reaktionen darauf pendelten zwischen »ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel« und ein »skandalöser Generalverdacht« hin und her. Auslöser der Aufregung war ein nur 91 Zentimeter großes technisches Hilfsmittel, eine Minidrohne. Die zuerst vom US-Militär eingesetzten Drohnen zur Terroristenjagd auf al-Qaida & Co. feierten bei diesem Einsatz ihre Premiere in der niedersächsischen Provinz. Die fast lautlose 47 000 Euro teure Drohne wurde viermal, so die offizielle Stellungnahme, zur Straftatsaufklärung und Beweissicherung sowie zur Einsatzführung und Aufklärung eingesetzt. Kritiker bemängelten anschließend die Verwendung des fliegenden Auges und warfen den Verantwortlichen den »Verstoß gegen das Persönlichkeitsrecht der Demonstranten« vor. Aber wie auch immer die zukünftige Einsatzverwendung der Drohne bei polizeilichen Lagen aussehen wird, beim Castor-Transport 2010 konnten die Polizeiführer auf diese Daten zurückgreifen, und sie taten es.
Die ermittelten Störerbewegungen betrafen zwar noch nicht direkt Marius’ Einsatzabschnitt, nahmen ihn und seine Männer aber keineswegs von der nächtlichen Alarmierung aus, da das Ziel der Demonstranten den nächstliegenden Einsatzraum betraf und ein Überspringen der Blockierer auf Marius EA nicht auszuschließen war. Somit wurde vorsorglich alarmiert, und die eigentlich fest eingeplante Ruhezeit fiel ins Wasser.
Der Castor-Zug fuhr weitestgehend nachts, um auf so wenig Demonstranten wie möglich zu treffen. Denn es war doch ein erheblicher Unterschied, ob jemand nachmittags um 15 Uhr seinen Arbeitsplatz ein, zwei Stunden eher verlassen musste, um ein wenig mitzudemonstrieren, oder ob er sich für dieses Engagement extra zwei oder drei Tage freinehmen und sich etliche eiskalte Nächte um die Ohren schlagen musste. Doch auch diese Demonstrationserschwernis hatte lediglich begrenzten Erfolg und hielt Berufs-, Event- und wirkliche Demonstranten nur in geringem Maße ab. Gegen Mittag erreichte eine etwa 700 Mann starke Demonstrantengruppe schließlich Marius’ Abschnitt. Das Ganze verlief fast ohne Zwischenfälle, bis sich aus dem größtenteils bürgerlichen Publikum zwei Dutzend Althippies und junge Burschen lösten, denen es kurzfristig gelang, sich auf die Gleise zu setzen und sie zu blockieren. Doch Marius, seine Kollegen und Unterstützungskräfte trugen sie kurzerhand weg, setzten sie abseits der Gleise ab und erteilten ihnen einen Platzverweis, an den sie sich auch hielten. Niemand wurde ausfallend oder gewalttätig. Noch befolgten die Demonstranten polizeiliche Anordnungen. Noch.
Bei einigen teilnehmenden jungen Burschen wirkte das Engagement nicht wie ein politisches Statement, sondern eher wie ein Räuber-und-Gendarm-Spiel, eine Mutprobe, bei der es galt, sich mit der Polizei zu messen. Bei vielen schien der eigentliche politische Anlass in den Hintergrund geraten zu sein. Event-Demonstranten, die dabei waren, um dagegen zu sein. Diese Gruppe umfasste nach Marius ’ Ansicht ausdrücklich auch die zahlreich anwesenden Grünen- und Linken-Politiker. Der populäre und medienwirksame Protest gegen Stuttgart 21 hatte sein norddeutsches Pendant gefunden: Gorleben 21.
Jeder EA versuchte grundsätzlich, erst einmal mit eigenen Kräften entstehende Blockaden und Probleme selbst zu lösen. War dies nicht möglich, wurden über die Einsatzleitstelle weitere freie Kräfte angefordert, insbesondere die
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