Inside Polizei
zusammengezogen. Denn die Blockierer hatten ihr Ziel erreicht – der Castor-Zug musste stoppen.
Um einen Blockierer abzuarbeiten, wurden in der Regel vier oder fünf Beamte benötigt. Zwei, drei Polizisten, die ihn wegtrugen, Polizisten für eine äußere und eine innere Absperrung, die Sicherung der Befehlsstelle, Fahrer für die Einsatzfahrzeuge und Beamte, die die Gefangenensammelstelle – GESA – bewachten, um sicherzugehen, dass die, die hierhingetragen wurden, nicht einen Kilometer entfernt die nächste Blockadeaktion starteten.
Dieser riesige Polizeiaufmarsch wurde durch Hunderte renitenter Landwirte erheblich erschwert, die durch Traktorenblockaden das ganze Wendland stilllegten. Die seit über 20 Stunden eingesetzten Beamten vor Ort waren so von den Nachschublinien vollkommen abgeschnitten. Sie erreichten weder die mobilen Küchen, um sich mit warmem Essen und Getränken zu versorgen, noch gelangten Ablösekräfte zu ihnen durch, noch befanden sich irgendwelche Toiletten in ihrer Nähe, nicht mal Dixi-Klos. Auch dort machten die doch sonst so politisch korrekten Blockierer keinen Unterschied zwischen Mann und Frau. Jeder, auch Polizistinnen, mussten ihre Notdurft im Wald verrichten.
Marius’ Einheit blieb ihr Einsatzglück erhalten, denn sie wurde eingeteilt, um die Gefangenensammelstelle zu sichern. Vom kräftezehrenden Wegtragen blieben sie also weitestgehend verschont. Die Demonstranten hatten eine strategisch gut geeignete Stelle für ihre Blockade gewählt, eine Bodensenke. Die Einsatzkräfte gelangten so nicht direkt an die Blockierer, da diese links und rechts von einer hohen Böschung und vorne von einer Brücke eingeschlossen waren. Nachdem alle polizeilichen Vorbereitungen abgeschlossen waren und Tausende Beamte ihre Bereitstellungspositionen besetzt hatten, positionierten sich starke Polizeikräfte in Doppelreihe, die Räumungseinheiten. Auch nach der dritten Aufforderung über Lautsprecher, die Gleise freiwillig zu verlassen, regte sich kaum einer der über 3000 Demonstranten. Nachdem die Ansagen ergebnislos verhallt waren, begann die Räumung um 0200.
Egal, ob eine eher zierliche Polizistin einen dicken Bauern abbekam oder nicht. Alle Polizisten schleppten ihr Gegenüber, ohne zu jammern oder zu klagen, und erledigten ihren Job. Jeder Blockierer wurde zunächst persönlich angesprochen und zum Aufstehen und Weggehen aufgefordert. Viele kamen dieser individuellen Ansprache nach und begleiteten die Polizisten selbstständig zur Gefangenensammelstelle. Doch fast 1000 Demonstranten widersetzten sich dieser Weisung und blieben sitzen. Die besonders Energischen verkeilten sich in ihre Nachbarn und machten den Polizisten ihre Aufgabe so schwer wie möglich. Dann hieß es, erst die aufgefrischten Jiu-Jitsu-Griffe anzuwenden und danach die Person wegzuschleppen. Und dies nach nunmehr 22 Stunden Dienst ohne Essen und Pause, nachts bei Temperaturen von mittlerweile minus einem Grad, mit einer zusätzlichen Schutzausrüstung von zehn Kilogramm belastet.
Die Tortur für die Einsatzkräfte wollte einfach nicht enden. Die Einheiten, die mit dem Wegtragen der Blockierer beschäftigt waren, mussten nichts sagen, um ihren Gemütszustand und ihre körperliche Verfassung zu verdeutlichen. Der kräfteraubende Einsatz war ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben.
Die Tragestrecke betrug anfangs 400 Meter, bis sich die Räumung durch die Blockade fraß, danach erhöhte sich die Distanz um weitere 200 bis 300 Meter. Die Polizisten schleppten die Blockierer die Böschung hoch, übergaben sie der Gefangenensammelstelle, gingen zurück, stellten sich wieder in der Polizeireihe an und schleppten den Nächsten weg. Niemand war mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, jeder dachte nur noch: »Hoffentlich ist es bald vorbei.«
Doch der eigene Schlafcontainer war noch weit entfernt, obwohl bereits seit drei Stunden Demonstranten in der GESA erfasst wurden. Friedliche Blockierer blieben dort, bis der Castor-Zug vorüber war, und konnten danach gehen, meist ohne Bußgeld oder andere staatliche Sanktionen. Vermummte oder besonders renitente Aktivisten wurden zuerst einer Identitätsfeststellung unterzogen. Danach wurde entschieden, ob sie einem Richter vorgeführt wurden, um eine längere Gewahrsamnahme anzuordnen. Konnten Straftaten eindeutig zugeordnet werden, wurden in der Regel eine erkennungsdienstliche Behandlung durchgeführt und die passende Strafanzeige gefertigt.
Nach sechs Stunden schweißtreibenden
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