Inside WikiLeaks
verzichten, um mich anständig von ihr zu verabschieden. Außer mir hatte die ganze Familie die Woche über an ihrem Bett gesessen. Aber ich hatte ja diesen Termin in Berlin, und der war wichtig.
Zu diesem Zeitpunkt hatten wir das Gefühl, wir müssten jede Gelegenheit nutzen, um WL prominenter zu machen. Wir brauchten dringend Spenden, wir freuten uns, wenn neue Dokumente bei uns hochgeladen wurden. Der Rest kam erst weiter hinten auf unserer Prioritätenliste. Viel weiter hinten.
Das erste Mal, dass mir ein Satz von Julian wirklich übel aufstieß, war Anfang 2009, als wir darüber nachdachten, zum Weltsozialforum nach Brasilien zu fliegen. Ein Freund hatte mich angesprochen: Er würde sehr gerne mitfliegen. Ich erzählte Julian davon, obwohl ich eigentlich dagegen war. Der Kumpel hatte mit dem Projekt nichts zu tun, und wir wollten keinen Urlaub dort machen, sondern Kontakte knüpfen und arbeiten. Julian indes fand die Idee ganz ausgezeichnet und meinte: »Lass ihn doch mitkommen.« Er hätte gerne jemanden dabei, der für ihn das Gepäck schulterte. Da habe ich mich das erste Mal gefragt, wer eigentlich im Moment gerade den Kofferträger für ihn spielte. Und entdeckte da niemanden – außer mir.
Erst später habe ich verstanden, dass Julian mein Verhalten häufig als Unterordnung aufgefasst haben muss. Dabei wollte ich einfach nur freundlich und rücksichtsvoll sein. Er hielt mich offenbar für viel schwächer, als ich in Wirklichkeit war.
Das lag vielleicht daran, dass ich ein optimistischer Mensch bin, der weniger Zeit auf Kritik und mehr Zeit für konkrete Taten verwendet. In dem Moment, in dem Julian den Eindruck haben konnte, dass ich mich ihm nicht mehr unterordnete, begann unsere Freundschaft zu bröckeln. Als ich konkrete Probleme ansprach – schlicht weil es diese Probleme gab und nicht, weil ich unser Verhältnis anders bewertete –, fing er an, mich als jemanden zu bezeichnen, den man »containen« musste – also in Schach halten, eindämmen.
Anfang 2010 änderte sich sein Ton mir gegenüber deutlich. Bis hin zu der Äußerung, er würde mich »jagen und töten«, wenn mir ein Fehler unterliefe. So was hatte noch nie jemand zu mir gesagt. Selbst wenn er noch so große Angst hatte, dass etwas schiefgehen könnte – so eine Drohung war durch nichts zu entschuldigen. Ich fragte nur, ob er noch ganz dicht sei, lachte und ließ es damit auf sich beruhen. Was sollte man dazu auch sagen?
Mir fallen keine schlimmen Patzer von mir ein. Nur einmal vergaß ich, ein Backup von dem zentralen Server zu machen. Als dieser dann kaputtging, behauptete Julian: » WL ist nur noch am Leben, weil ich dir nicht getraut habe.«
Er hatte eine Sicherungskopie, von der wir alles problemlos neu starten konnten. Er dürfte die Kopie nicht nur aus Sorgfalt, sondern auch aus Misstrauen, auch mir gegenüber, erstellt haben. Es ging nämlich um den Server, auf dem auch unsere Mails deponiert waren.
Das Absurde war, dass er eigentlich derjenige war, der ständig etwas verlor oder vergaß. Genau das warf er nun mir vor. Für Julians eigene Missgeschicke gab es meist eine ausgefeilte Erklärung. Wenn möglich gar eine heroische. Als er im Juni 2009 den Medienpreis von Amnesty International entgegennehmen sollte, kam er drei Stunden zu spät in London an. Es ging in dem prämierten Leak um heimliche Auftragsmorde durch die kenianische Polizei, von der über 1700 Menschen getötet und knapp 6500 Menschen verschleppt worden waren. Zwei kenianische Menschenrechtler von der Oscar Foundation hatten das aufgedeckt und einen Bericht darüber verfasst.
Julian verpasste die Preisverleihung. Im Auditorium hätten ihm viele Menschen zugehört, die wir damals auf anderem Wege niemals erreicht hätten. Der Verweis auf diesen Preis sollte uns viele Türen öffnen, weil er bei vielen Kritikern wie eine Bürgschaft wirkte: Was Amnesty einen Preis wert gewesen war, konnte so unmoralisch nicht sein.
Zwei Monate vor der Preisübergabe waren Kamau Kingara, der Leiter der Oscar Foundation , und sein Programmleiter John Paul Oula in Nairobi in ihrem Auto aus nächster Nähe erschossen worden. Die beiden waren gerade auf dem Weg zur kenianischen Menschenrechtskommission, mit der zusammen sie diesen Bericht erstellt hatten. Wir hatten ihn lediglich auf unsere Website gestellt, und damit einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Eigentlich wären wir es Kingara und Oula schuldig gewesen, den Preis auch in ihrem Namen persönlich
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