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Inside WikiLeaks

Titel: Inside WikiLeaks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Domscheit-Berg
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entgegenzunehmen. Julian verfasste daraufhin eine sehr feierliche Presseerklärung, in der er ihr Engagement noch einmal ausdrücklich hervorhob.
    Die Ausrede von Julian, warum er zu der Preisübergabe zu spät gekommen war, hätte derweil mehrere Seiten in einem Agenten-Thriller füllen können: Ich erinnere mich nur noch an zwei Polizisten, die ihn angeblich verfolgt hätten.
    Einmal erklärte er mir, den Anschlussflug verpasst zu haben, weil er eine extrem anspruchsvolle Matheaufgabe gelöst hätte. Obwohl ich so viel Zeit mit ihm verbracht habe, konnte ich nie sicher sagen, wann er flunkerte und wann er die Wahrheit sprach.
    Ich kenne auch mindestens drei verschiedene Geschichten zu seiner eigenen Vergangenheit und der Herkunft seines Nachnamens. Es gab Geschichten zu mindestens zehn Vorfahren aus diversen Teilen der Erde, von irgendwelchen Iren bis zu Südseepiraten. Eine Zeitlang ließ er sich sogar als »Julien d’Assange« Visitenkarten drucken. Er hat ein regelrechtes Mysterium um seine eigene Person gestrickt, seine Vergangenheit mit immer neuen Details ausgekleidet und sich dann gefreut, wenn ein Journalist das so aufschrieb. Mein erster Gedanke, nachdem ich gehört habe, dass er seine Autobiographie schreibt: Die gehört im Buchladen in die Belletristik-, nicht in die Sachbuchabteilung.
    Julian kreierte sich jeden Tag neu, wie eine Festplatte, die immer wieder neu formatiert wurde. Zurücksetzen, neustarten. Vielleicht lag das daran, dass er selbst nicht wusste, wer er war und woher er kam. Vielleicht hatte er gelernt, dass er sich immer wieder lossagen musste, von Frauen, von Freunden. Da war es einfacher, wenn er eine Persönlichkeitsrevision machen und die Reset-Taste drücken konnte.
    Julian befand sich in einem ständigen Kampf um Dominanz, sogar mit meinem Kater Herr Schmitt. Dieses grau-weiße Pelztier war zeit seines Lebens ein liebes, träges Wesen, ein bisschen übervorsichtig, aber gutmütig bis in die Schnurrbartspitzen. Seit Julian bei mir in Wiesbaden gewohnt hat, leidet er unter einer Psychose.
    Julian setzte dem Tier mit permanenten Angriffen zu. Er spreizte seine Finger wie eine Gabel und stürzte sich so auf den Hals des Katers. Es war ein Kampf. Es ging darum, wer schneller war: Entweder gelang es Julian, den Kater mit den Fingern zu umschließen und in diesem Griff auf dem Boden festzutackern. Oder der Kater war schneller, und er vertrieb Julian mit einem schnellen Tatzenhieb. Für den Kater muss das ein Alptraum gewesen sein. Kaum wollte sich Herr Schmitt schnurrend zur Ruhe kringeln, stürzte sich dieser verrückte Australier auf ihn. Julian suchte sich für die Attacken mit Vorliebe Momente aus, in denen Herr Schmitt sehr müde war.
    »Es geht darum, seine Wachsamkeit zu trainieren«, erklärte er mir. Der Kater müsse dominieren. »Der Mann darf nie vergessen, dass er der Herr der Lage ist«, sagte Julian. Ich weiß nicht, wer in meiner Wohnung und auf dem Hinterhof die männliche Identität von Kater Schmitt in Frage stellte. Ohnehin war Schmitt kastriert. Aber ich konnte Julian nicht von seinem Spielchen abbringen.
    Als wir im April 2009 auf dem Rückweg von der International Journalism Conference in Perugia in Italien waren, gab es einen Streit mit einem Schaffner, der uns fast unser Flugticket zurück nach Deutschland gekostet hätte.
    Wir standen an diesem Tag sehr unter Zeitdruck, weil wir diesen Anschlussflug in Rom erreichen mussten. Ein Zug hatte Verspätung, eine Oberleitung war ausgefallen. Wir mussten umbuchen und dafür ein neues Ticket und einen Zuschlag lösen. Ich hatte mich um alles gekümmert, quälende Minuten am Schalter angestanden, während Julian sich auf eine Bank gesetzt und das Gepäck gehütet hatte. Wir hetzten schließlich über den Bahnsteig und erwischten unseren Ersatzzug nur noch im Endspurt und weil ich dem Zugpersonal schon von der Treppe aus »Nicht abfahren, wait please!« entgegenbrüllte.
    Mit rasendem Puls und nassgeschwitzt landeten wir also in dem Zug, den man uns am Bahnhof als letzte Möglichkeit ans Herz gelegt hatte. Es war tatsächlich allerletzte Eisenbahn. Wir steuerten zwei Fensterplätze an, packten unsere Rucksäcke auf die freien Sitze daneben und streckten seufzend die Beine aus.
    Das Ungemach kam in Form eines schlecht rasierten, leicht untersetzten Mannes, der sich langsam von Sitzreihe zu Sitzreihe bis zu unseren Plätzen vorarbeitete, und war ein italienischer Fahrkartenkontrolleur. Mit zusammengezogenen Augenbrauen

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