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Inside WikiLeaks

Titel: Inside WikiLeaks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Domscheit-Berg
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Schattenboxen vielleicht zwanzig Sekunden und sollte wohl der Streckung seiner Sehnen und Gelenke dienen.
    Julian konnte tagelang am Stück konzentriert arbeiten und dann ganz plötzlich einschlafen. Er legte sich in voller Montur, mit Hosen, Strümpfen und Kapuze ins Bett, zog die Decke über sich – und weg war er. Wenn er aufwachte, war er genauso schlagartig zurück in der Welt. Er sprang sofort auf, was in der Regel dazu führte, dass er in irgendetwas hineinrannte. Ich hatte eine Hantelbank in dem Zimmer stehen. Ich habe gar nicht mitgezählt, wie oft er von der Matratze, auf der er schlief, direkt in die Eisenstangen gesprungen ist. Das gab einen riesigen Krach, und ich wusste: Schön, Julian ist wieder wach!
    Er hatte noch eine sehr witzige Eigenart. Er wollte gerne die Kleidung tragen, die seinen jeweiligen Zustand widerspiegelte. Oder umgekehrt: Er konnte sich nur durch die richtige Kleidung in die gewünschte Stimmung versetzen.
    »Daniel, ich brauche ein Jackett. Hast du eins?«
    »Willst du ausgehen?«
    »Ich muss heute ein sehr wichtiges Statement schreiben.«
    »Was?«
    Auch wenn er sonst in Trainingsjacke und Cappie bei mir am Küchentisch saß – ich musste ihm schnellstmöglich ein Jackett leihen, damit er sich darin an einen Text für eine Pressemitteilung machen könnte. Das Jackett zog er dann den ganzen Tag nicht mehr aus, setzte ein ernstes Gesicht auf und formulierte. Danach ging er schlafen – mit Jackett.
    In den zwei Monaten, die er bei mir wohnte, lernte ich eine Person kennen, die ganz anders war als die Typen, mit denen ich sonst meine Zeit verbrachte. Und ich war starke Charaktere gewöhnt. Ich fand Julian auf der einen Seite unerträglich und auf der anderen Seite unglaublich liebenswert.
    Ich hatte das Gefühl, bei Julian musste im Leben irgendetwas sehr Grundlegendes falsch gelaufen sein. Er hätte ein verdammt toller Mensch werden können, und ich war stolz, einen Freund zu haben, in dem dieses Feuer brannte, für den Ideen und Prinzipien und die Veränderung der Welt zum Besseren alles waren. Der einfach aufsprang und handelte und dabei wenig darauf gab, was andere sagten. In gewissen Punkten versuchte ich sogar, mir diese Haltung von ihm abzugucken. Aber er hatte eben auch diese andere Seite, und die gewann in den folgenden Monaten immer mehr die Oberhand.
    Manche Freunde haben mich gefragt, wie ich es so lange mit Julian ausgehalten habe. Ich denke, jeder Mensch hat seine Eigenarten, einfach ist es mit niemandem. Gerade in der Hacker-Szene sind ein paar extreme Persönlichkeiten unterwegs, einige sogar mit leicht autistischen Zügen. Ich bin aus Gewohnheit wohl überdurchschnittlich tolerant, was die Macken anderer Menschen betrifft. Deshalb habe ich es so lange mit Julian ausgehalten, wohl länger als die meisten.
    Am 17. Februar 2009 war ich Gast in der Podcast-Sendung Küchenradio . Julian schrieb damals folgende Mail an unsere Unterstützer:
    »Daniel Schmitt on Berlin's Keutchenradio: A two hour video and audio interview session with our German correspondent, Daniel Schmitt, will be broadcast on Berlin's well-regarded Kuechenradio at 21:00 tonite«. 7
    Wenn ich das heute lese, muss ich ein bisschen schlucken. Manchmal vergesse ich, wie gut die Zeit auch war, die wir zusammen hatten. »Well-regarded«, hatte er geschrieben – das Küchenradio ist nur ein Podcast für ein paar Technikfreaks, und Julian war trotzdem so stolz auf uns. Ganz klar gibt es auch heute immer wieder Momente, in denen ich mich frage, ob all das wirklich kaputtgehen musste. Und ob wir heute nicht noch immer Freunde wären, wenn WL nicht diesen erstaunlichen Erfolg gehabt hätte, wenn das Geld und die Aufmerksamkeit und der internationale Druck nicht gekommen wären.
    »Keutchenradio« – das war auch typisch Julian. Worte in einer anderen als der englischen Sprache konnte er sich einfach nicht gut merken. Er nannte den Spiegel auch immer »Speigel«, selbst in Zeiten, als das deutsche Nachrichtenmagazin schon seit Monaten einer unserer engsten Medienpartner war.
    Im Taxi auf dem Weg nach Berlin-Neukölln zu dem Journalisten Philip Banse bekam ich einen Anruf von meiner Mutter. Meine Oma war gestorben, wir hatten jeden Tag damit gerechnet. Ich war nicht noch einmal in den Rheingau gefahren, um sie noch einmal zu sehen. Ich weiß, dass meine Oma stolz auf mich und meinen Kampf für eine gerechtere Welt war. Ich schämte mich trotzdem, dass ich nicht bereit gewesen war, auf die Radiosendung zu

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