Inside WikiLeaks
gemeinsam heimkehren sehen dürfte. Ich habe mich immer gefragt, was das für einen Unterschied gemacht hätte. Wenn sich schon jemand die Mühe gemacht hätte, meine Wohnung zu beobachten, hätte er wohl herausgefunden, dass wir zusammenwohnten.
Wenn wir gemeinsam in der Stadt waren, mussten sich unsere Wege auf dem Heimweg trennen, darauf bestand Julian. Er ging links herum und ich rechts, was dazu führte, dass ich oft zu Hause auf ihn warten musste, weil er sich verlaufen hatte. Ich habe noch nie einen Menschen mit einem derart schlechten Orientierungssinn getroffen. Julian konnte in eine Telefonzelle gehen und beim Heraustreten nicht mehr wissen, aus welcher Richtung er gekommen war. Er schaffte es regelmäßig, meine Haustür zu verfehlen. Auffälliger würde man sich kaum verhalten können als Julian, der nach rechts und links guckend die Straßen auf und ab lief, um meinen Hauseingang zu finden, bis ich irgendwann kam und ihn einsammelte.
Immer auf der Suche nach einem neuen Look und der perfekten Tarnung hatte er sich von mir eine blaue DDR -Trainingsjacke und eine Formel-1-Sonnenbrille ausgeliehen und dazu eine braune Baseballcap aufgesetzt. Ich lächelte insgeheim über seinen kindlichen Spieltrieb. Unauffälliger sah er dadurch nicht aus, eher verkleidet. Als ich ihn das nächste Mal suchen ging, kam er in diesem Style um die Ecke gebogen, eine hölzerne Euro-Palette auf die rechte Schulter gestemmt. Mir erschien das nicht gerade wie eine besonders professionelle Verschleierungstaktik. Manchmal glaube ich, er hat sich zu sehr von irgendwelchen Büchern inspirieren lassen, die dann zusammengemengt mit seiner Phantasie ein eigenes Set an Julian-Assange-Verhaltensregeln ergab.
Julian hatte auch ein sehr ungezwungenes Verhältnis zur Wahrheit. Ich habe manchmal den Eindruck gehabt, dass er testete, wie weit er gehen konnte. Er hat mir zum Beispiel eine Geschichte aufgetischt, wie er zu seinen weißen Haaren gekommen wäre. Mit 14 Jahren hätte er zu Hause im Keller einen Reaktor zusammengebaut und falsch herum gepolt. Von diesem Tag an seien seine Haare durch die Gammastrahlung weiß nachgewachsen. Alles klar. Vielleicht wollte er gucken, was er behaupten und herbeiflunkern konnte, bis ich widersprach: »Stopp! Das glaube ich dir nicht!« Meistens sagte ich gar nichts dazu. Ich fand, das war keine Art, mit anderen Menschen umzugehen.
Julian verlief sich nicht nur ständig, er stieg auch gerne in den falschen Zug oder fuhr in die entgegengesetzte Richtung. Und wenn er von A nach B flog, Boot oder Bahn fuhr, gingen dabei nicht gerade selten ein paar Quittungen oder Bescheinigungen verloren. Ständig wartete er »total dringend« auf einen Brief, der ihn aus der nächsten Patsche befreien sollte: eine Unterschrift für ein Konto, eine neue Kreditkarte, eine Lizenz für eine Vertragskonstruktion. Es war klar, dass dieser Brief »spätestens morgen« eintreffen musste. Ich habe ihn nie sagen hören: »Das habe ich nicht geschafft/vergessen/verbaselt«, wenn er nach einer zugesagten Leistung gefragt wurde, sondern: »Ich warte nur noch auf eine Antwort von Meyermüllerschulz.« Die Redewendung: »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen«, war für Julian erfunden worden. Und jetzt kommt die große Überraschung: Er war selten schuld, wenn etwas vergessen worden war. Sondern Banken, Flughafenpersonal, Stadtplaner und im Zweifel sogar das State Department, das amerikanische Außenministerium. Vermutlich schmiss das State Departement sogar die Tassen runter, die während seines Besuchs in meiner Wiesbadener Küche zu Bruch gingen.
Dafür konnte Julian eine Konzentration an den Tag legen, die ich bei niemandem sonst erlebt habe. Er konnte tagelang mit seinem Computerbildschirm zu einer unbeweglichen Einheit verschmelzen. Wenn ich spät ins Bett ging, dann saß er noch wie ein schmaler Buddha auf der Couch. Wenn ich am nächsten Tag aufwachte: Julian in Kapuzenjacke vor dem Rechner, in exakt der gleichen Pose. Wenn ich am nächsten Abend wieder schlafen ging – Julian saß immer noch da.
Er war bei der Arbeit kaum ansprechbar, meditativ versunken programmierte er, schrieb, las, ich weiß nicht was. Er sprang höchstens einmal kurz auf, unvermittelt, um seltsame Kung-Fu-Übungen zu machen. Einige Medien stellten das so dar, als wäre Julian mindestens im Besitz eines Äquivalents zum schwarzen Gürtel aller international bekannten Kampfsportkünste. Tatsächlich dauerte sein improvisiertes
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