Inspector Alan Banks 01 Augen im Dunkeln
der Regel aber als Nebenerscheinung der Senilität.»
«Ich sehe nicht ganz den Zusammenhang ...»
«Alice war keineswegs senil, junge Dame», mischte sich Ethel Carstairs ein, «sie wurde nur allmählich ein bißchen vergeßlich bei kleinen alltäglichen Dingen, aber an die Vergangenheit konnte sie sich ganz genau erinnern.»
Jenny nickte bestätigend. «Das war nicht beleidigend gemeint, Mrs. Carstairs. Ich wollte nur sagen, daß diese Dinge eine ganz natürliche Folge des Alterungsprozesses sind und uns alle treffen werden, früher oder später.» Sie wandte sich wieder an Banks. «Um ein Gesicht einordnen zu können, vergleichen wir es mit unserem Repertoire an bekannten Gesichtern. Das passiert in Bruchteilen von Sekunden, und entweder können wir das Gesicht zuordnen oder nicht. Bei der Prosopagnosia kann der Betrachter zwar die einzelnen Gesichtszüge ausmachen, sie jedoch nicht als Ganzes mit den im Gedächtnis gespeicherten Bildern in Zusammenhang bringen. Insofern sind ältere Menschen häufig gefährdet im Umgang mit Fremden, und deshalb schien mir diese Tatsache erwähnenswert.»
«Wollen Sie damit sagen, daß sie möglicherweise nur geglaubt hat, ihren Besucher zu erkennen?» fragte Banks.
«Ja, vielleicht meinte sie auch nur, sie müßte ihn kennen und dürfe nicht unhöflich sein. Das ist ein ziemlich weit verbreitetes Phänomen. Ein freundlicher, gut erzogener Mensch möchte nicht den Anschein erwecken, unhöflich zu sein, und zieht es deshalb vor, so zu tun, als wisse er genau, mit wem er zu tun hat. Das ist etwa vergleichbar mit der Situation, daß man den Namen eines Bekannten vergessen hat und sich die größte Mühe gibt, ihn nicht direkt ansprechen zu müssen. Nur daß die Dinge hier weitaus ernster sind.»
Dr. Glendenning packte seinen abgewetzten braunen Arztkoffer, zündete sich eine Zigarette an - was streng verboten war am Schauplatz eines Verbrechens, in seinem Fall jedoch stillschweigend geduldet wurde - und schlenderte hinüber zu Banks und Jenny. «Seit ungefähr vierundzwanzig Stunden tot», knarzte er aus dem Mundwinkel, mit der heiseren Stimme des Kettenrauchers und einem starken Edinburgher Akzent. «Todesursache Schädelfraktur, wahrscheinlich an der Tischkante hier.»
«Können Sie sagen, ob man sie gestoßen hat?»
«Sieht so aus. Ein paar Quetschungen an den Oberarmen und den Schultern. Ist allerdings keine endgültige Diagnose, Genaueres kann ich Ihnen erst nach der Autopsie erzählen. Aber falls sich das alte Mädchen nicht auch noch hat vergiften lassen, wird wohl kaum viel mehr dabei herauskommen. Sie können sie jetzt rüberbringen lassen ins Leichenschauhaus. Wird ja wohl eine offizielle Untersuchung geben müssen», erklärte er und ging.
Die Arbeit der Spurensicherung war unterdessen auch beendet. Manson hatte reichlich Fingerabdrücke gesammelt - überwiegend wohl von Alice Matlock selbst -, mit denen er sich vergnügen konnte, und die übrigen Beamten hatten jede Menge Plastikbeutel gefüllt mit Haaren, Kleidungsstücken und Blutresten.
«Sie können jetzt auch gehen, Mrs. Carstairs», verkündete Banks. «Es wäre sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie morgen früh zu uns aufs Revier kämen und Ihre Aussage zu Protokoll geben würden.» Er gab Detective Constable Richmond den Auftrag, Ethel nach Hause zu fahren, und wies ihn an, sie am Morgen dort wieder abzuholen und aufs Revier zu bringen.
«Das wär's, dann werd' ich mich auch mal auf den Heimweg machen», erklärte er mit deutlich müder Stimme. «Kümmern Sie sich um den Rest, Sergeant. Sorgen Sie dafür, daß über Nacht ein Posten hier aufgestellt wird, und geben Sie der Ambulanz die nötigen Anweisungen. Außerdem können Sie ruhig schon mit der Befragung der Nachbarn beginnen, sie werden sicher noch auf sein. Die Neugier hält die Leute ja bekanntlich wach. Nehmen Sie sich ganz Gallows View vor und die sechs übrigen Bungalows hier in der Straße, der Rest kann bis morgen warten. Denken Sie daran, daß der Tod nach Angaben des Doktors vor ungefähr vierundzwanzig Stunden eingetreten sein muß - also etwa zwischen zehn und zwölf letzte Nacht -, und finden Sie heraus, ob jemand irgendwas gesehen oder gehört hat. Okay?»
Hatchley nickte trübsinnig. Plötzlich fiel sein Blick auf Richmond, der eben Ethel Carstairs nach draußen begleitete, und seine Miene hellte sich auf. «Bleib nicht zu lange, mein Junge», rief er ihm nach und entblößte seine gelben
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