Inspector Alan Banks 01 Augen im Dunkeln
deinem Studio und können es kaum erwarten, sich auszuziehen.»
«So flott nun auch wieder nicht, meine Liebe. Und von einem Studio kann auch keine Rede sein. Aber was ist mit dir, Robin?»
«Was soll mit mir sein?»
«Bist du auch der Meinung von Harriet, daß es unnatürlich ist, wenn man Studiofotos von Nackten macht?»
«Unnatürlich nicht, nein. Meine Mutter würde es allerdings bestimmt nicht gutheißen», meinte er in einem matten Versuch von Humor. «Ich habe manchmal höllisch zu kämpfen, um ein bißchen Privatleben für mich zu retten.»
Gegen zehn Uhr setzte ein allgemeiner Rückzug nach Hause ein, aber Sandra gab Harriet mit einem diskreten Blick zu verstehen, daß sie noch ein wenig bleiben sollte. Nachdem die anderen gegangen waren, rückte Harriet ihren Stuhl näher heran und fragte: «Noch was zu trinken?»
«Ja, bitte», antwortete Sandra. Sie brauchte wirklich einen Drink, und sie brauchte jemanden, mit dem sie sprechen konnte. Die einzige Person, die ihr zu diesem Zweck einfiel, war Harriet, aber trotzdem war sicher noch etwas Alkohol nötig, damit sie sich öffnen konnte.
Die freien Plätze an ihrem Tisch wurden im Nu wieder belegt von einer Gruppe lärmender, aber doch höflicher Stallburschen. Nachdem sie sich auf den lauteren Geräuschpegel eingestellt hatte, begann Harriet von ihrer Arbeit zu erzählen, die darin bestand, daß sie mit einer mobilen Leihbücherei durch die abgelegeneren Dörfer der Dales fuhr.
«Ich hatte gestern eine Reifenpanne, oberhalb von Wensleydale beim Butter-Tubs-Paß», berichtete sie. «Ein Wagen voller Touristen kam plötzlich um die Kurve gebraust, ich mußte blitzschnell zur Seite ausweichen auf den Schotter, und der ist ganz schön spitz, das kann ich dir flüstern. Jedenfalls hab ich eine Ewigkeit da festgesessen, bis endlich ein netter junger Tierarzt vorbeikam und mir geholfen hat. Als ich dann endlich in Angram ankam, hat die alte Mrs. Whytherboom einen Höllentanz aufgeführt, weil sie so lange auf ihren neuesten Krimi von Agatha Christie warten mußte.» Sie legte eine Pause ein. «Sandra, was ist mit dir? Du hörst mir ja gar nicht zu.»
«Wie? Ach, entschuldige, bitte.» Sandra kippte den letzten Schluck ihres Wodka Slimline und gab sich einen Ruck. «Es ist mir auch passiert, Harriet», sagte sie leise. «Das, worüber wir letzte Woche gesprochen haben. Mich hat es vorigen Freitag erwischt.»
«Großer Gott», flüsterte Harriet und faßte Sandra beim Handgelenk. «Was ... wie?»
«Genau wie bei den anderen. Ich hab mich zum Schlafengehen fertig gemacht, und er hat mich durch eine Lücke unter dem Vorhang beobachtet.»
«Hast du ihn bemerkt?»
«Glücklicherweise gerade noch rechtzeitig, bevor ich ganz ausgezogen war. Er ist sofort verschwunden, und ich konnte ihn nicht mehr erkennen. Die Sache ist streng vertraulich, Harriet, und muß unter uns bleiben. Alan hat keine Anzeige erstattet, um uns beiden die damit verbundenen Peinlichkeiten zu ersparen. Das macht ihm schon schwer genug zu schaffen, und wenn er wüßte, daß nun noch jemand ...»
«Schon verstanden. Mach dir keine Sorgen, Sandra, ich werde keiner Menschenseele etwas davon sagen. Nicht einmal David.»
«Ich danke dir.»
«Wie fühlst du dich jetzt?»
«Jetzt? Oh, ganz gut, es kommt mir alles schon sehr weit entfernt vor. Im ersten Moment war es natürlich ein Schock, und ich habe mich regelrecht vergewaltigt gefühlt, aber ich wollte mit dir darüber reden, daß ich auch so etwas wie Mitleid empfunden habe für diesen Mann. Es ist merkwürdig, aber als ich wieder einigermaßen klar denken konnte, kam mir die ganze Sache so kindisch vor. Ja, das ist genau das Wort, das mir in den Sinn kam - kindisch. Dieser Mann braucht Hilfe und keine Bestrafung. Oder vielleicht beides, ich weiß auch nicht. Es hängt davon ab, welches Gefühl in mir stärker ist - Wut oder Mitleid. Jedesmal wenn ich daran denke, liefern sich diese beiden Gefühle einen Kampf in mir.»
«Es war dumm von mir, so was zu sagen wie letzte Woche», entschuldigte sich Harriet. «Daß er mir leid tut und so. Ich hatte keine Ahnung ... das heißt, ich habe immer noch keine Ahnung, wie das ist. Aber diese Gefühle - Wut und Mitleid - sind viel enger beieinander, als man denkt, nicht wahr?»
«Ja, tatsächlich. Wie dem auch sei - es ist nicht ganz so schlimm, wie du vielleicht denkst», meinte Sandra lächelnd. «Man ist ziemlich schnell
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