Inspector Alan Banks 06 Das verschwundene Lächeln
Gegenwart hatte sich Jenny schon immer etwas befangen gefühlt, ohne dass sie gewusst hätte, warum. Er schien ganz und gar seinen eigenen Weg zu gehen - souverän, energisch und entschlossen -, zudem strahlte er Zuverlässigkeit und Ruhe aus. Aber irgendetwas an ihm brachte sie in Verlegenheit. Vielleicht, so überlegte sie, war es die unterschwellige Aura der Zurückgezogenheit, die sie spürte, die Festung, hinter der er seine Gefühle versteckt zu halten schien. Sie wusste vom Krebstod seiner Frau vor einigen Jahren und vermutete, dass vielleicht ein Teil von ihm mit ihr gestorben war. Auch Susan Gay, so erinnerte sie sich, hatte erzählt, dass sie sich in seiner Gegenwart unwohl fühle, obgleich er im Ruf stand, ein freundlicher und einfühlsamer Mann zu sein.
Zudem konnte man nur schwerlich seine körperliche Präsenz ignorieren. Er war ein großer Mann - massig, aber nicht fett - mit buschigen Augenbrauen und einem ungezähmten grauen Haarschopf. Wenn es tatsächlich ein vom Wetter gegerbtes und von der Landschaft geformtes Geschöpf gab, dann war er mit seinem rötlichen, pockennarbigen Gesicht und der leicht gebogenen Nase in Jennys Augen ein typischer Bewohner dieses Landstrichs.
»Ich habe mich gestern Abend schon mal ein wenig kundig gemacht«, begann sie. »Zumindest kann ich Ihnen eine zusammenfassende Darstellung der pädophilen Typologie geben.«
Gristhorpe nickte. Während sie sprach, hatte Jenny irgendwie das Gefühl, er wisse über das Thema im Grunde mehr als sie. Schließlich behandelten einige seiner Bücher die kriminelle Psychologie und die forensische Psychiatrie, zudem galt er allgemein als belesen. Andererseits hatte sie nicht den Eindruck, dass er ihr nur aus reiner Höflichkeit zuhörte. Nein, er hörte ihr interessiert zu und schien neugierig zu sein, etwas zu erfahren, was ihm noch nicht bekannt war oder an was er bisher noch nicht gedacht hatte. Und dabei beobachtete er sie achtsam mit diesen trügerisch unschuldigen Augen.
Sie schob ihre schwarz umrandete Lesebrille auf die Nase und zog die Aufzeichnungen aus ihrer Aktentasche. »Im Wesentlichen gibt es vier pädophile Typen«, begann sie. »Und bisher scheint Ihr Paar auf keinen zuzutreffen. Der erste Typus ist jemand, der nicht dazu in der Lage ist, zufrieden stellende Beziehungen zu seinesgleichen herzustellen. Hierbei handelt es sich um den am meisten verbreiteten Typus, in sexueller Hinsicht fühlt er sich nur bei Kindern sicher. Für gewöhnlich kennt er sein Opfer, er ist vielleicht ein Freund der Familie oder sogar ein Verwandter.«
Gristhorpe nickte. »Um welche Altersklasse geht es hier, ungefähr?«
»Das Durchschnittsalter ist so um die vierzig.«
»Mmm. Fahren Sie fort.«
»Der zweite Typus ist jemand, der sich normal zu entwickeln scheint, dem es aber zunehmend schwer fällt, sich dem Erwachsenenleben anzupassen: Arbeit, Ehe et cetera. Er fühlt sich unzulänglich und beginnt häufig zu trinken. Gewöhnlich bricht die Ehe, wenn es eine gibt, auseinander. Bei diesem Typus setzt ein bestimmtes Ereignis die Dinge in Bewegung. Es kommt zu einer Art Zusammenbruch. Vielleicht hat seine Frau oder seine Freundin eine Affäre, was sein Gefühl der Unzulänglichkeit verstärkt. Dieser Typus kennt normalerweise sein Opfer nicht. Es kann sich um jemanden handeln, den er im Auto vorbeifahren sieht oder so. Auch dieser Fall passt nicht mit dem von Ihnen beschriebenen Vorfall bei Brenda Scupham zusammen.«
»Nein«, stimmte ihr Gristhorpe zu. »Aber wir müssen für alle Möglichkeiten offen bleiben.«
»Und den dritten Typus können wir meiner Meinung nach auch ausschließen«, fuhr Jenny fort. »Dabei handelt es sich um einen Menschen, der seine entscheidenden sexuellen Erfahrungen mit minderjährigen Jungen in einer wie auch immer gearteten Anstalt gemacht hat.«
»Aha«, sagte Gristhorpe. »In einem Internat?«
Jenny schaute zu ihm hoch und lächelte. »Zum Beispiel.« Sie wandte sich wieder ihren Notizen zu. »Wie auch immer, hierbei handelt es sich normalerweise um homosexuelle Pädophile von der Art, die auf der Straße nach Opfern sucht oder männliche Prostituierte frequentiert.«
»Und der letzte Typus?«
»Der Unberechenbare«, erklärte Jenny. »Der psychopathische Pädophile. Diesen Typus kann man nur schwer einordnen. Er ist ständig auf der Suche nach neuen sexuellen Reizen und die sind meistens mit Schmerz und Angst verbunden. Er verletzt seine Opfer,
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