Inspector Alan Banks 08 Der unschuldige Engel
begann, hatte sie das Mädchen auch in der Kirche und bei den Chorproben gesehen.
Deborahs Vater, Sir Geoffrey, hatte St. Mary's bei den ersten Anzeichen für einen Skandal den Rücken gekehrt. Die Schule hatte zu Daniel gehalten; Sir Geoffrey jedoch, dem der äußere Schein wesentlich wichtiger war als die Wahrheit, hatte sich ostentativ abgewendet und seine Familie und eine Reihe anderer wohlhabender und einflussreicher Mitglieder der Gemeinde mit sich genommen. Und St. Mary's war der wohlhabendste Pfarrbezirk in Eastvale. Auf jeden Fall früher. Jetzt leerten sich die Schatullen schnell.
Rebecca lehnte ihre Stirn an die kalte Scheibe und beobachtete, wie ihr Atem das Fenster beschlug. Sie sah sich Patricks Namen mit einem Fingernagel schreiben und spürte das Verlangen nach ihm in ihren Lenden brennen. Sie hasste sich für diese Gefühle. Patrick war zehn Jahre jünger als sie, gerade mal sechsundzwanzig, aber er war so glühend, so leidenschaftlich und sprach immer so begeistert vom Leben, der Poesie und der Liebe. Obwohl sie nach ihm verlangte, hasste sie ihr Verlangen; obwohl sie die Affäre jeden Tag beenden wollte, sehnte sie sich nach nichts mehr, als sich vollständig in ihm zu verlieren.
Wie das Trinken war Patrick eine Flucht. Sie kannte sich selbst gut genug, um das zu wissen. Eine Flucht vor der vergifteten Atmosphäre in St. Mary's, vor dem, was aus Daniel und ihr geworden war, und, wie sie sich in ihren dunkelsten Momenten eingestehen musste, eine Flucht vor ihren eigenen Ängsten und Verdächtigungen.
Und jetzt das! Es ergab keinen Sinn, versuchte sie sich selbst zu überzeugen. Daniel konnte unmöglich ein Mörder sein. Warum hätte er ein so unschuldiges Mädchen wie Deborah Harrison töten sollen? Ein Mensch, dem man eine Tat zutraute, musste ja nicht zwangsläufig auch für jedes andere Verbrechen verantwortlich sein.
Während sie zuschaute, wie die Polizisten in ihren Regencapes und Gummistiefeln durch das hohe Gras stapften, musste sie den Tatsachen ins Auge sehen: Daniel war erst nach Hause gekommen, nachdem sie weggegangen war, um den Engel zu besuchen; er war verschwunden, bevor sie meinte, einen Schrei gehört zu haben. Sie hatte nicht gewusst, wo er gewesen war, und als er zurückkehrte, waren seine Schuhe schlammbeschmiert und Blätter und Kiesel steckten in seinen Sohlen.
* III
Die Leichenhalle befand sich im Kellergeschoss des Allgemeinen Krankenhauses von Eastvale, einem schmucklosen, viktorianischen Backsteingebäude mit hohen, zugigen Fluren und Krankenzimmern, in denen man nach Susans Auffassung garantiert krank wurde, wenn man es nicht bereits war.
Der weiß gekachelte Obduktionssaal war dagegen kürzlich modernisiert worden. Als würden die Toten eine gesündere Umgebung verdienen als die Lebenden, dachte sie.
Der Saal wurde von einer Klimaanlage gekühlt; in der Mitte standen zwei glänzende Metalltische mit Rinnen an den Seiten und vor einer Wand ein langer Experimentiertisch, über dem Schränke mit Glastüren hingen, in denen anatomische Präparate aufbewahrt wurden. Susan hatte es nie gewagt, sich nach den beiden Gläsern zu erkundigen, die so aussahen, als enthielten sie menschliche Gehirne.
Dr. Glendennings Assistenten hatten Deborah Harrisons Leiche schon aus dem Plastiksack genommen; sie lag jetzt, bekleidet wie auf dem Friedhof, auf einem der Tische.
Es war neun Uhr und aus dem Radio ertönte die Sendung »Aufwachen mit Wogan«. »Müssen wir uns diesen Mist anhören?«, wollte Banks wissen.
»Das ist die Normalität, Banks«, sagte Glendenning. »Deswegen haben wir es angeschaltet. Genau in diesem Moment hören Millionen von Menschen diese Sendung zu Hause. Menschen, die nicht gleich die Leiche eines sechzehn Jahre alten Mädchens sezieren müssen. Ich nehme an, Sie würden ein anspruchsvolles Klassikkonzert auf Radio 3 vorziehen, stimmt's? Ich kann nicht behaupten, dass mir die Vorstellung, eine Obduktion zu Elgars Enigma-Variationen durchzuführen, besonders gefallen würde.« Glendenning steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel und zog seine Chirurgenhandschuhe an.
Susan lächelte. Banks schaute sie an und zuckte mit den Achseln.
Das Mädchen auf dem Seziertisch war kein menschliches Wesen mehr, sagte sich Susan. Sie war nur noch ein Stück totes Fleisch, genau wie in einer Metzgerei. Sie musste an June Walker aus ihrer früheren Schulklasse denken, die Tochter des Metzgers, und erinnerte sich
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