Inspector Alan Banks 08 Der unschuldige Engel
schnell einen Blick auf Brustkorb und Bauch geworfen hatte, wandte Glendenning seine Aufmerksamkeit dem Schambereich zu. Susan schaute weg, sie wollte keine Zeugin dieser demütigenden Handlung sein, und es war ihr egal, was man von ihr sagte oder dachte.
Aber den Klang von Glendennings Stimme konnte sie nicht ausschalten.
»Mmmh. Interessant«, sagte er. »Keine Anzeichen für einen sexuellen Übergriff. Keine Prellungen. Keine Fleischwunden. Schauen wir mal hinten nach.«
Er drehte die Leiche um; sie klatschte gegen den Tisch wie Fleisch auf einer Schlachtbank. Während der darauf folgenden Stille hörte Susan ihr Herz schnell und laut schlagen.
»Nein, nichts«, verkündete Glendenning schließlich. »Auf jeden Fall nichts Offensichtliches. Ich warte noch auf die Testergebnisse der Abstriche, aber ich gehe jede Wette ein, dass nichts dabei herauskommt.«
Susan drehte sich wieder zu den beiden um. »Sie wurde also nicht vergewaltigt?«, fragte sie.
»Sieht nicht so aus«, antwortete Glendenning. »Natürlich wissen wir das erst mit Sicherheit, wenn wir einen gründlichen Blick auf die Organe geworfen haben. Und um das zu tun ...« Er nahm ein großes Skalpell.
Glendenning beugte sich über die Leiche und machte einen Y-Schnitt von den Schultern bis zur Scham. Mit einem geübten Schwung aus dem Handgelenk umging er dabei das zähe Gewebe des Nabels.
»Gut«, sagte Banks und wandte sich an Susan. »Wir gehen lieber.«
Glendenning schaute von dem klaffenden Schnitt auf. »Bleiben Sie nicht bis zum Ende der Show?«
»Keine Zeit. Wir müssen pünktlich in der Schule sein.«
Glendenning betrachtete die Leiche und schüttelte den Kopf. »Kann ich Ihnen nicht verdenken. An manchen Tagen würde ich am liebsten im Bett bleiben.«
Während die beiden sich entfernten und es Glendenning überließen, ohne ihr Dabeisein Deborah Harrisons innere Organe zu durchforschen, war Susan Banks so dankbar wie noch nie in ihrem Leben. Sie nahm sich vor, ihm ein Pint auszugeben, wenn sie das nächste Mal im Queen's Arms wären. Aber den Grund würde sie ihm nicht verraten.
* DREI
* I
Die St.-Mary's-Schule war nicht Castle Howard, aber sie sah beeindruckend genug aus, um als Drehort für ein klassisches Drama von der BBC gewählt zu werden.
Banks und Susan fuhren durch das hohe schmiedeeiserne Tor und steuerten die gewundene Auffahrt entlang. Ahornbäume säumten den Weg auf beiden Seiten und hatten einen Teppich aus rostfarbenen und goldenen Blättern gebildet. Wie die Rotorblätter eines Hubschraubers wirbelten die geflügelten Samen im Nieselregen zu Boden.
Als sie durch die Bäume spähten, erhaschten sie einen ersten Blick auf das imposante graue Steingebäude, über dessen von hohen Fenstern und Säulen flankiertem Haupteingang die zentrale Kuppel thronte. Auf den Säulen, vor einem Fries, standen Statuen und an der Vorderseite des Gebäudes wellten sich Doppelstufen hinab wie Hummerkrallen.
Die Mädchenschule von St. Mary's, hatte Banks gelesen, war 1823 auf einem Grund von fast zwanzigtausend Quadratmetern Waldland am Swain gegründet worden. Das 1773 vollendete Hauptgebäude war eigentlich als Landhaus gedacht gewesen, in dem allerdings nie jemand gewohnt hatte. Gerüchten zufolge hatte Lord Satterthwait, für den das Haus gebaut worden war, bei einem allzu gewagten Geschäftsunternehmen in Übersee nicht nur einen großen Teil seines eigenen Vermögens, sondern auch das Geld anderer Honoratioren der Grafschaft verloren und war gezwungen gewesen, in Ungnade die Gegend zu verlassen und nach Amerika zu fliehen.
Auf dem Gelände herrschte an diesem Morgen Stille, nur ein paar Mädchen in kastanienbraunen Blazern sahen Banks vor dem Haus parken und begannen zu tuscheln. Der Wagen war nicht als Polizeiwagen gekennzeichnet, aber Banks und Susan waren Fremde, und mittlerweile musste jeder erfahren haben, dass Deborah Harrison ermordet worden war.
Banks fragte eines der Mädchen, wo sie die Schulleiterin finden könnten, und wurde von ihr durch den Eingang geradewegs in den hinteren Teil des Gebäudes und dann in den letzten Gang auf der rechten Seite gewiesen. Die Räume hatten hohe Stuckdecken und dunkle, polierte Holzvertäfelungen. Susans Schritte hallten beim Gehen. Das war auf jeden Fall eine ganz andere Welt als die düstere Anstaltsatmosphäre der Gesamtschule von Eastvale oder Banks' alte Backsteinschule in
Weitere Kostenlose Bücher