Inspector Alan Banks 08 Der unschuldige Engel
Jenny für eine Weile nichts, kaute auf ihrer Unterlippe und dachte nach. Banks trank einen Schluck Bier. »Ich habe versucht, eine Art psychologisches Szenario für diese Tat zu entwerfen«, sagte er. »Owen Pierce hatte Mittel und Gelegenheit, außerdem ist der DNA-Beweis ziemlich zwingend. Aber ich suche nach einem Motiv.«
»Mittlerweile müsstest du wissen, dass man bei solchen Taten nicht immer ein Motiv findet, Alan. Das sind motivlose, befremdliche Morde. Auf jeden Fall haben die Täter oft kein Motiv, das du oder ich als logisch oder gar nachvollziehbar betrachten würden, wie Wut oder Rache.«
»Stimmt. Aber hör mir noch einen Moment zu, Jenny. Er sagt, er war niedergeschlagen wegen dieser Michelle, wütend auf sie. Er geht spazieren und während des Spaziergangs sieht er sie mitten im Nebel vor sich: Michelle. Gut, vielleicht nicht wirklich Michelle, aber ihr Ebenbild. Eine jüngere Version, unschuldiger, vielleicht verletzlicher, weniger bedrohlich. Er folgt ihr auf den Friedhof, spricht sie an, sie sagt etwas und entfacht seinen Zorn. Er war Michelle gegenüber schon einmal gewalttätig geworden, denk daran. Es ist also nichts Neues für ihn. Ergibt das einen Sinn?«
Jenny runzelte die Stirn. »Das könnte sein«, sagte sie. »Manchmal verhalten wir uns Menschen gegenüber, als hätten wir es mit jemand anderem zu tun. Wir leben etwas an einem Stellvertreter aus. Man nennt das >Übertragung<, ein unterbewusster Abwehrmechanismus, bei dem Gefühle und Wünsche von einem Objekt oder einer Person auf eine andere übertragen werden, die weniger bedrohlich erscheint. Ich glaube, Freud hat das als eine der Neurosen definiert, aber ich habe Freud im Moment nicht vollkommen parat. Deine Frage lautet wohl, ob ich glaube, dass Owen Pierce seine Gefühle für Michelle auf Deborah übertragen haben könnte aufgrund einer vagen, äußerlichen Ähnlichkeit ...«
»Und aufgrund seines Gemütszustandes zu der Zeit.«
»Gut, das auch. Und beides hat ihn dazu gebracht, sie umzubringen. Eigentlich hat er aber Michelle getötet.«
»Genau. Was denkst du darüber?«
»Ich glaube, du bist auf dem richtigen Weg, auf jeden Fall ansatzweise.«
»Du glaubst nicht, dass ich mich in etwas verrenne?«
»Überhaupt nicht.« Ihr Essen wurde serviert. »Noch einen Drink zum Essen?«
»Gerne. Wenn eine Frau mich einladen will, sage ich nicht nein.«
Als Jenny zur Theke ging, schaute ihr Banks hinterher. Sie bewegte sich elegant und hatte eine großartige Figur: lange Beine, eine schmale Taille und einen Hintern wie zwei Pflaumen in einer nassen Papiertüte. In ihrem Gang lag zudem frischer Schwung und Zuversicht. Anscheinend hatte ihr der Sommer in Kalifornien gut getan.
Sie trug eine enge schwarze Jeans und eine jadegrüne Jacke aus Naturseide über einer weißen Bluse. Dem Schnitt und dem Stoff der Jacke nach zu urteilen, die tailliert und über der Wölbung ihrer Hüften leicht ausgestellt war, hatte sie sie am Rodeo Drive oder einem ähnlichen Ort ein kleines Vermögen gekostet. Aber für hübsche Kleidung hatte Jenny schon immer etwas übrig gehabt.
Banks bemerkte, wie sie ein paar Worte mit einem jungen Mann wechselte, der aussah wie ein Bankangestellter, während sie wartete, dass Cyril das Pint zapfte. Der arme Kerl, dachte Banks, er hatte keine Chancen. Doch Jenny lächelte. Warum war er selbst heute noch eifersüchtig, wenn er sie mit einem anderen Mann flirten sah?
Sie kam mit einem Pint Bitter für Banks und einem Campari Soda für sich zurück. Er dankte ihr. »Verabredet?«, sagte er und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Mann.
Jenny lachte. »Ich könnte seine Mutter sein. Außerdem ist er nicht mein Typ.« Jenny war im Dezember fünfunddreißig geworden, der junge Mann war ungefähr vierundzwanzig. Doch Banks wusste, dass Jenny bisher noch nicht herausgefunden hatte, was ihr »Typ« war.
Wenn Jenny lächelte, leuchteten ihre grünen Augen auf und die Lachfältchen kräuselten sich. Ihre Sonnenbräune brachte die Sommersprossen auf ihrer Nase und ihren Wangen zur Geltung.
»Wie war es in Kalifornien?«, fragte er.
»Nur Sonne und Surfer. Genau wie in >Baywatch<.«
»Wirklich?«
Sie rümpfte die Nase. »Nein, eigentlich nicht. Du würdest es hassen«, versicherte sie. »Rauchen ist überall verboten.«
»Und die halten es für das Paradies. Bist du dort auf den Geschmack von Brathuhn gekommen?«
»Quatsch! Ich
Weitere Kostenlose Bücher