Inspector Alan Banks 08 Der unschuldige Engel
hatte schon immer eine Schwäche für mageres, fettfreies Fleisch mit viel Kruste und Cholesterin. Das entspricht meinen inneren Widersprüchen.« Sie schnitt ein Stück fetttriefende Hühnerbrust ab und steckte es in den Mund.
Banks lachte. Sie aßen schweigend, dann zündete sich Banks eine Zigarette an. »Zurück zu Pierce«, sagte er. »Mir ist klar, dass das etwas überfallartig kommt, aber ich hätte gerne, dass du etwas für die Staatsanwaltschaft ausarbeitest.«
»Worüber?«
»Worüber wir gerade gesprochen haben. Übertragung zum Beispiel. Erzähl mir mehr darüber.«
Jenny nippte an ihrem Campari Soda. Banks' Pint war noch halb voll und ein weiteres Bier wollte er sich zum Mittag nicht mehr zugestehen.
»Okay«, sagte Jenny. »Nehmen wir an, er kann seine Wut nur schwer unter Kontrolle halten. Es ist eine Binsenweisheit, dass Menschen oft auf Frustration reagieren, indem sie wütend werden, und wenn ihre Wut wirklich intensiv ist und ihre Selbstbeherrschung außerdem durch andere Umstände geschwächt ist - sagen wir, durch Alkohol oder Müdigkeit -, dann kann es zu einem körperlichen Angriff und sogar zu Mord führen. Das scheint im Fall von Michelle passiert zu sein, aber was ist mit Deborah? Hatte er getrunken?«
»Zwei Bier und einen Whisky.«
»Okay. Dann nehmen wir an, dass wir es tatsächlich mit einer Übertragung zu tun haben, um mit der Situation zurechtzukommen. Ein Abwehrmechanismus, wenn du so willst.«
»Abwehr von was?«
»Im Grunde von Stress. Wenn eine Situation ernsthaft dein inneres Gleichgewicht bedroht, dein Ego, deine Selbstachtung, dann nimmst du eine Abwehrhaltung ein. Du verteidigst dein Selbst gegen die Bedrohung.«
»Auf welche Weise?«
»Auf jede erdenkliche Weise. Verleugnung der Realität. Rationalisierung. Fantasie. Verdrängung. Das tun wir alle. Im Grunde läuft es darauf hinaus, dass man sich von den Ängsten und Spannungen befreit, die den Schmerz verursacht haben.«
»Sexuelle Spannungen?«
»Kann sein. Aber das ist nur eine Möglichkeit.«
»Und Übertragung ist eine dieser Abwehrmechanismen?«
»Genau. Man überträgt die starken Gefühle von der Person, auf die sie ursprünglich gerichtet waren, auf eine andere Person. Oftmals geht es dabei um sehr komplizierte Gefühle wie Feindseligkeit oder Angst. Das ist ein unterbewusster Prozess.«
»Willst du damit sagen, er war für seine Handlungen nicht verantwortlich?«
»Interessante Frage. Aber ich glaube nicht. Ich weiß nicht genau, wie das Strafgesetz es sieht, aber meiner Meinung nach ist ein Mensch, der an Übertragung leidet, voll verantwortlich für seine Taten, besonders für Gewalttaten. Ich glaube nur, dass er den inneren Prozess nicht kennt, der ihn dazu bringt, das tun zu wollen, was er tut.«
»Was wahrscheinlich fast immer auf die meisten von uns zutrifft, oder?«
»Ja. Auf weniger extreme Weise.«
»Okay. Mach weiter.«
»Übertragung geht häufig einher mit Projektion. Man gibt anderen die Schuld für seine Probleme.«
»Frauen?«
»Kann sein. In extremen Fällen führt es zu einer Art Paranoia. Man gelangt zu der Überzeugung, dass bestimmte Kräfte oder Gruppen gegen uns arbeiten. Er könnte aus seinen Ängsten und Feindseligkeiten gegen Frauen im Allgemeinen eine solche Projektion hergestellt haben. Das tun eine Menge Männer. Zum Beispiel dieser Frankokanadier, der in der Universität von Montreal all diese Frauen erschossen hat.«
»Und könnte er angesichts des Jahrestages ihrer Beziehung, der Wirkung des Alkohols und der Ähnlichkeit der beiden Frauen auch seine feindseligen Gefühle für Michelle auf Deborah übertragen haben?«
»Möglicherweise, ja. Es gibt eine Untersuchung von einem Psychologen namens Masserman von 1961, in der er aufzeigt, dass Menschen unter anhaltender Frustration eher dazu bereit sind, Ersatzziele zu akzeptieren.«
»Deborah für Michelle?«
»Ja. Allerdings bin ich nicht mehr ganz firm in dieser Materie. Ich werde ein paar Tage brauchen, um etwas auszuarbeiten.«
»Wie sieht es mit nächster Woche aus?«
Jenny lächelte. »Mal sehen, was ich tun kann.«
»Ruf mich einfach an, wenn du noch etwas wissen willst.«
»Kann ich Kopien von den Aussagen haben?«
»Kein Problem.«
»Okay. Aber jetzt muss ich wirklich los.« Sie stand auf und nahm ihren Mantel. Dann beugte sie sich hinab und gab Banks einen schnellen
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