Inspector Alan Banks 09 Das blutige Erbe
für ihn empfinden, Liebe, die mit Sicherheit über alles Verständnis hinausging und eine Vielzahl von Sünden vergab.
Plötzlich bemerkte Frank, dass Josie über ihre Schulter schaute und mit Tränen in den Augen die Stirn runzelte. Er drehte sich um und sah, was ihre Reaktion hervorgerufen hatte: Vor der Baumreihe standen ungefähr zehn junge Männer, alle trugen schwarze Pullover mit Polokragen aus einem glänzenden Material, Gürtel mit Silberschnallen und trotz der warmen Temperaturen schwarze Lederjacken. Mehr als die Hälfte hatten kahl geschorene Schädel. Skinheads. Einige trugen Sonnenbrillen. Der Große, Hagere sah älter aus als die anderen und Frank vermutete in ihm sofort den Anführer.
Sie mussten sich nicht vorstellen. Frank wusste, wer sie waren. So sicher, wie er wusste, dass Jason tot in seinem Grab lag. Er hatte das Traktat gelesen. Als der Pfarrer zum Ende des Gottesdienstes kam, hob der Anführer seinen Arm zum Hitlergruß und die anderen folgten seinem Beispiel.
Frank konnte nicht anders. Bevor er darüber nachdenken konnte, was er tat, hastete er zu ihnen hinüber und packte den Anführer. Der Mann lachte nur und schüttelte ihn ab. Dann, als Frank versuchte, wenigstens einen Schlag abzugeben, wurde er von ihnen umzingelt und wie ein Ball hin und her geschubst und geschoben. Als würden sie Blinde Kuh auf einer Kinderfeier spielen. Und während sie ihn schubsten, lachten sie lauthals und nannten ihn »Opa« und »alter Knacker«.
Frank schlug wild um sich, doch er kam nicht frei. Er sah nur einen Strudel grinsender Gesichter, geschorener Köpfe und sein eigenes Spiegelbild in ihren dunklen Brillengläsern. Die Welt drehte sich zu schnell, er verlor die Kontrolle. Ihm war zu heiß. Obwohl er sie gelockert hatte, schnürte seine Krawatte wieder seinen Hals zu. Plötzlich setzte der Schmerz in seiner Brust ein, als würde ein Schraubstock sein Herz umklammern und zudrücken.
Er stolperte von der Gruppe weg, packte an seine Brust. Der Schmerz breitete sich wie brennende Nadeln über seinen linken Arm aus. Er glaubte, er würde Maureen mit einem Stock auf einen der Jugendlichen losgehen sehen. Er konnte sie durch das Klingeln und Summen in seinen Ohren hören: »Lasst ihn in Ruhe, ihr brutalen Schweine! Lasst ihn in Ruhe, ihr faschistischen Arschlöcher! Seht ihr nicht, dass er ein alter Mann ist? Seht ihr nicht, dass er krank ist?«
Dann geschah etwas Seltsames. Frank lag jetzt auf dem Boden und spürte, wie er sanft und langsam begann, über dem Schmerz zu schweben, oder eher, von ihm fortzutreiben, tiefer in sich selbst hinein, ganz erhaben und schwerelos. Ja, das war es, tiefer in sich selbst hinein. Er schwebte nicht über der Szene und schaute hinab auf das Chaos, sondern bewegte sich weit in sein Inneres hinein und sah Bilder von sich aus lange vergangenen Zeiten.
Eine Reihe von Erinnerungen schoss durch seinen Kopf: das Flakfeuer, das den Bomber umgab wie helle, in der Nacht aufblühende Blumen, während Frank schwerelos in seiner Gefechtskanzel in der Luft zu hängen schien; der Tag, an dem er Edna auf dem Heimweg im Regen vom Frühlingsfest in Helmthorpe einen Heiratsantrag gemacht hatte; die Nacht, in der seine einzige Tochter Josie im Allgemeinen Krankenhaus in Eastvale geboren wurde, während Frank in Lyndgarth feststeckte, noch ohne Telefon damals, abgeschnitten von der Außenwelt durch einen unbarmherzigen Schneesturm.
Doch seine letzte Erinnerung war eine, die ihm seit Jahrzehnten nicht mehr in den Sinn gekommen war. Er war fünf Jahre alt. Er hatte seinen Finger in der Eingangstür eingeklemmt und saß weinend auf der frisch gescheuerten Steintreppe und schaute zu, wie sich das dunkle Blut unter seinem Fingernagel sammelte. Er konnte die Wärme der Steinstufe an seinen Oberschenkeln spüren und die Hitze der Tränen auf seinen Wangen.
Dann ging die Tür auf. Wegen des grellen Sonnenlichts konnte er kaum mehr als eine Silhouette erkennen, doch als er eine Hand über seine Augen legte und aufschaute, wusste er, dass es die liebende, mitfühlende, alles wieder gutmachende Gestalt seiner Mutter war, die sich zu ihm hinabbeugte, um ihn hoch in ihre Arme zu nehmen und allen Schmerz wegzuküssen.
Danach wurde alles schwarz.
* II
»Ah, Banks. Da sind Sie ja endlich.«
Kaum hatte er auf dem Weg von der Kaffeemaschine zurück in sein Büro die Stimme hinter sich gehört, bekam Banks ein flaues Gefühl im Magen. Aber was
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