Inspector Alan Banks 10 In einem heißen Sommer
musste über mehrere große Pfützen springen.
Als er die Packpferdbrücke überquerte, kam eine Frau auf ihn zu und hielt ihn mit ausgestrecktem Arm an. »Entschuldigen Sie, Sir«, sagte sie, »aber dies hier ist ein Tatort. Es tut mir Leid, aber Sie dürfen nicht näher kommen.«
Banks grinste. Er wusste, dass er nicht wie ein Chief In-spector aussah. Er hatte seine Sportjacke im Wagen gelassen und trug ein am Hals offenes blaues Jeanshemd ohne Krawatte, eine beige Hose und schwarze Gummistiefel.
»Warum ist er dann nicht abgesperrt?«, fragte er.
Die Frau sah ihn an und runzelte die Stirn. Sie war Ende zwanzig oder Anfang dreißig und, nach dem ersten Blick zu urteilen - lange Beine, groß und schlank - wahrscheinlich nur wenig kleiner als Banks mit seinen ein Meter achtundsiebzig. Sie trug Jeans und eine weiße Bluse aus einem seidenähnlichen Stoff. Über der Bluse hatte sie einen Blazer mit Fischgrätmuster, der ihre Taille und die sanft geschwungenen Hüften betonte. Das kastanienbraune Haar war in der Mitte gescheitelt und fiel ihr in Stufen bis auf die Schulter. Das Gesicht war oval, sie hatte glatte, gebräunte Haut, volle Lippen und einen kleinen Schönheitsfleck rechts neben dem Mund. Sie trug eine Sonnenbrille mit schwarzem Gestell, und als sie sie abnahm, schienen ihre ernsten Mandelaugen Banks zu betrachten, als sei er eine bis dato unbekannte Lebensform.
Sie war keine klassische Schönheit. Ein Gesicht wie ihres fand man nicht in Zeitschriften, doch strahlte sie starke Persönlichkeit und Intelligenz aus. Und die roten Gummistiefel rundeten diesen Eindruck ab.
Banks lächelte. »Muss ich Sie erst von der Brücke in den Fluss werfen, bevor ich rüberkommen kann, so wie Robin Hood das mit Little John gemacht hat?«
»Ich glaube, es war eigentlich anders herum, aber Sie können es ja versuchen«, sagte sie. Nachdem sie sich gegenseitig kurz abgeschätzt hatten, blinzelte sie, runzelte die Stirn und sagte: »Dann sind Sie also Chief Inspector Banks?«
Sie wirkte weder nervös noch beschämt, weil sie ihn für einen Gaffer gehalten hatte; in ihrem Ton lag keine Spur von Entschuldigung oder Ehrfurcht. Er wusste nicht, ob ihm das gefiel. »Sergeant Cabbot, nehme ich an?«
»Ja, Sir.« Sie lächelte. Es war nicht mehr als ein Zucken der Mundwinkel und ein kurzes Aufleuchten ihrer Augen, aber es machte Eindruck. Viele Leute dachten bestimmt, dass es schön sei, von Sergeant Cabbot angelächelt zu werden, überlegte Banks. Was seinen Argwohn nur noch steigerte, welche Gründe Jimmy Riddle gehabt haben mochte, ihn hierher zu schicken.
»Und die da?« Banks zeigte auf den Mann und die Frau, die mit dem uniformierten Beamten sprachen. Der Mann richtete eine Videokamera auf den Schuppen.
»Colleen Harris und James O'Grady, Sir. Sie erkundeten die Gegend für eine Fernsehsendung, als sie den Jungen durchs Dach fallen sahen. Sie sind ihm zu Hilfe geeilt. Offenbar hatten sie auch die Kameras zur Hand. Ich schätze, es wird eine hübsche kleine Meldung in den Abendnachrichten geben.« Sie kratzte sich an der Nase. »Wir hatten kein Absperrband mehr, Sir. Auf der Wache. Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass jemals welches da war.« Sie spielte beim Sprechen mit der Sonnenbrille, aber Banks hielt es nicht für Nervosität. Sie besaß einen leichten Akzent, ein kaum merklich rollendes R, aber doch nicht zu überhören.
»Gegen die Fernsehleute können wir jetzt nichts machen«, sagte Banks. »Vielleicht nützen sie uns sogar. Am besten erzählen Sie mir, was passiert ist. Ich weiß nur, dass ein Junge hier ein paar alte Knochen gefunden hat.«
Sergeant Cabbot nickte. »Adam Kelly. Er ist dreizehn.«
»Wo ist er?«
»Ich hab ihn nach Hause geschickt. Nach Harkside. Er kam mir ein bisschen durcheinander vor, außerdem hatte er sich an Handgelenk und Ellenbogen verletzt. Nichts Schlimmes. Jedenfalls wollte er zu seiner Mama, deshalb habe ich Constable Cameron da drüben gesagt, er solle ihn nach Hause bringen und dann zurückkommen. Der arme Junge wird bestimmt monatelang Albträume haben.«
»Wie ist es passiert?«
»Als Adam über das Dach lief, gab es unter ihm nach. Er kann von Glück sagen, dass er sich nicht die Wirbelsäule gebrochen hat oder erschlagen wurde.« Sie wies auf den Schuppen. »Die Balken, die die Steinplatten trugen, müssen nach so vielen Jahren unter Wasser morsch gewesen sein. Da braucht man nicht schwer zu sein.
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