Inspector Alan Banks 10 In einem heißen Sommer
ja schön und gut, wenn jemand sagte, er heiße »John«, aber woher sollte man wissen, ob er sich nicht »Jon« schrieb?
Vivian betrachtete ihre Hand beim Signieren. Krallenähnlich, dachte sie, fast skelettartig, gesprenkelt mit Leberflecken, gerunzelte Haut, über den Knöcheln faltig, geschwollen um den Ehering, der sich nicht mehr abstreifen ließ.
Ihre Hände würden sie als Erstes im Stich lassen, dachte sie. Der Rest von ihr hatte sich erstaunlich gut gehalten. Sie war groß und schlank geblieben. Sie war weder geschrumpft oder, wie so viele ältere Frauen, aufgeschwemmt, noch hatte sie sich mit einem dicken, undurchdringlichen hausmütterlichen Panzer umgeben.
Das stahlgraue, streng zurückgekämmte und im Nacken festgesteckte Haar bildete auf der Stirn einen spitz zulaufenden Haaransatz über dem ausdrucksvollen, länglichen Gesicht. Die tiefblauen Augen, umgeben von Krähenfüßen, hatten eine fast orientalische Mandelform, die Nase war leicht gekrümmt, die Lippen dünn. Kein Gesicht, das oft lachte, dachten die Leute. Und sie hatten Recht, obwohl es nicht immer so gewesen war.
»Ein stählerner, unerschrockener Blick in die Abgründe des Bösen«, hatte ein Rezensent über sie geschrieben. Und war es nicht Graham Greene gewesen, der bemerkt hatte, jeder Schriftsteller habe einen Eissplitter im Herzen?
»Sie haben früher oben im Norden gelebt, stimmt's?«
Vivian blickte auf, verblüfft über die Frage. Der Mann schien um die sechzig zu sein, dünn bis abgemagert, mit einem langen, hageren, blassen Gesicht und glattem hellem Haar. Er trug eine verblichene Jeans und ein grellbuntes T-Shirt, wie es Besucher von Freizeitparks gern tragen. Als er ihr das Buch zum Signieren reichte, bemerkte sie, dass seine Hände ungewöhnlich klein für einen Mann waren. Irgendetwas daran verwirrte sie.
Vivian nickte. »Vor langer Zeit.« Dann sah sie auf das Buch. »Wem soll ich das Buch widmen?«
»Wie hieß der Ort, wo sie wohnten?«
»Das ist schon lange her.«
»Hatten sie damals den gleichen Namen wie heute?«
»Hören Sie, ich ...«
»Entschuldigen Sie, Sir.« Höflich bat Adrian den Mann, weiterzugehen. Er tat, wie ihm geheißen, warf noch einen Blick zurück auf Vivian, dann schleuderte er ihr Buch auf einen Stapel und ging.
Vivian signierte weiter. Adrian brachte ihr noch ein Glas Wein, die Leute sagten ihr, wie wunderbar sie ihre Bücher fanden, und bald hatte sie den seltsamen Mann mit den bohrenden Fragen vergessen.
Als alles vorbei war, schlugen Adrian und die Mitarbeiter vor, essen zu gehen, aber Vivian war müde, ein weiteres Zeichen ihres fortgeschrittenen Alters. Sie wollte nichts anderes tun, als nach Hause fahren und ein langes, heißes Bad nehmen, dazu einen Gin Tonic trinken und die Erziehung der Gefühle von Flaubert lesen, aber zuerst brauchte sie ein bisschen Bewegung und frische Luft. Allein.
»Ich fahre Sie nach Hause«, sagte Wendi.
Vivian legte die Hand auf Wendis Arm. »Nein, meine Liebe«, sagte sie. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gerne allein ein bisschen spazieren gehen, dann nehme ich die U-Bahn.«
»Aber, wirklich, es macht keine Umstände. Dafür bin ich doch da.«
»Nein. Ich komme gut zurecht. Ich bin noch in den besten Jahren.«
Wendi lief rot an. Man hatte ihr wahrscheinlich gesagt, dass Vivian launisch sei. Die Pressedamen und Medienbeauftragten wurden immer gewarnt. »Tut mir Leid. Das habe ich damit natürlich nicht gemeint. Das ist meine Aufgabe.«
»Ein hübsches Mädchen wie Sie muss doch weitaus Besseres zu tun haben, als eine alte Frau durch den Londoner Verkehr nach Hause zu kutschieren. Warum gehen Sie nicht mit Ihrem Freund ins Kino oder in die Disco oder so?«
Wendi lächelte und warf einen Blick auf die Uhr. »Hm, ich habe Tim gesagt, ich würde ihn erst später treffen können. Wenn ich ihn jetzt anrufe und mich an der Abendkasse anstelle, bekommen wir vielleicht noch Theaterkarten zum halben Preis. Aber nur, wenn Sie sich auch ganz sicher sind.«
»Das bin ich, meine Liebe. Gute Nacht.«
Vivian trat hinaus in die warme herbstliche Dämmerung auf der Bedford Street.
London. Manchmal merkte sie, dass sie noch immer nicht begreifen konnte, dass sie tatsächlich in dieser Stadt lebte. Sie erinnerte sich noch gut an ihren ersten Besuch - wie weitläufig, majestätisch und überwältigend die Stadt auf sie gewirkt hatte. Ehrfürchtig hatte sie
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