Inspector Alan Banks 11 Kalt wie das Grab
verdammte Pferd steigen und weiterreiten.
Am Marktplatz blieb Annie kurz stehen und beobachtete den ehrfürchtigen Ausdruck auf den Gesichtern der Kinder, die sich um den Weihnachtsbaum scharten. Das erinnerte sie an ihre Kindheit in St. Ives. In der Kommune, in der sie aufgewachsen war, hatte es nur wenige Christen gegeben. Die meisten waren überhaupt nicht religiös, widmeten sich nur der Kunst, und andere neigten eher esoterischeren Glaubensrichtungen zu wie dem Zenbuddhismus oder dem Taoismus, bei denen es keinen Gott gab, wo man über die Bedeutung des Nichts oder das Geräusch des Klatschens mit einer Hand nachsinnen konnte. Annie selbst, mit ihrer Meditation und dem Yoga, stand dem Buddhismus näher als sonst etwas, obwohl sie sich nie dazu bekannte, Buddhistin zu sein. Dazu war sie nicht entrückt genug; sie wusste, dass Begehren Leid schuf, aber sie begehrte trotzdem.
Christlich oder nicht, jedes Weihnachten war für Annie und die anderen Kinder dort eine festliche Zeit gewesen. Es gab immer irgendwelche Kinder, obwohl die meisten nicht lange blieben, und sie gewöhnte sich daran, dass ihre Freunde wegzogen, verließ sich nur auf sich selbst, nicht auf andere. Aber zu Weihnachten besorgte immer jemand einen Baum, und jemand anders beschaffte Lametta und Christbaumschmuck, und Annie bekam stets Weihnachtsgeschenke von allen, die zu der Zeit dort waren, selbst wenn es nur Skizzen und kleine, handgefertigte Figuren waren; die meisten besaß sie nach wie vor, und manche waren inzwischen einiges wert - wobei sie nicht daran dachte, sie je zu verkaufen. Weihnachten war in der Kommune genauso Tradition wie anderswo und brachte stets Erinnerungen an ihre Mutter zurück. Sie hatte ein Foto von ihrer Mutter, die Annie hochhielt, damit sie den Christbaumschmuck bewundern konnte. Damals musste Annie zwei oder drei Jahre alt gewesen sein, und obwohl sie sich selbst nicht an den Augenblick erinnern konnte, spürte sie dabei immer eine Welle von Nostalgie und Verlust.
Sie schüttelte die Vergangenheit ab und ging weiter zum Jolly Roger.
In Eastvale gab es nicht viele Studenten, und das College selbst war eine hässliche Mischung aus Ziegel- und Betonblöcken am südlichen Stadtrand, umgeben von Sumpfland und zwei Gewerbegebieten. Keiner wollte da draußen wohnen, selbst wenn man da hätte wohnen können. Die meisten Studenten wohnten näher am Stadtzentrum, und es waren genug, um zumindest einen Pub zur Studentenkneipe zu machen, was in diesem Fall der »Roger« war.
Auf den ersten Blick dachte Annie, der Jolly Roger unterschiede sich kaum von den anderen Pubs im viktorianischen Stil an der Market Street, aber als sie sich drinnen umschaute, bemerkte sie, dass er schäbiger war und die Musikbox eine seltsame Mischung aufwies. Statt dem gefälligen Pop und Bands mit bekannten Namen enthielt sie viel aggressivere, alternative Songs. Die Gäste bestanden um diese Zeit am Nachmittag hauptsächlich aus Studenten, deren Vorlesungen früh zu Ende waren oder die bereits seit Mittag hier hockten. Sie saßen in kleinen Gruppen zusammen, rauchten, unterhielten sich und tranken. Einige bevorzugten das abgerissene, marxistische Aussehen von früher, andere orientierten sich eher am Stil von Tony Blair, aber alle schienen sich fröhlich zu vermischen. Ein oder zwei Einzelgänger mit dicken Brillen saßen lesend allein an Tischen und nahmen hin und wieder einen Schluck von ihrem Pint.
Annie ging zur Bar und zog das verschwommene Bild aus dem Überwachungsvideo heraus.
»Mir wurde gesagt, dass Sie das Paar vielleicht kennen«, sagte sie zu dem jungen Mann hinter der Bar, der aussah, als sei er selbst Student. »Einer unserer Beamten war gestern hier.«
»Ich nicht, meine Liebe«, sagte er. »Ich hatte gestern frei. Das muss Kath da drüben gewesen sein.« Er zeigte auf eine kleine Blonde, die damit beschäftigt war, Bier zu zapfen und mit einem anderen Mädchen an der Bar zu plaudern. Annie ging hinüber und zeigte ihr das Foto.
»Ist Ihnen dazu noch etwas eingefallen?«, fragte sie, nachdem sie sich vorgestellt hatte.
»Ich hab darüber nachgedacht«, sagte Kath, »aber ich komme nicht drauf. Ich weiß, dass ich sie hier schon gesehen habe, kann sie aber nicht einordnen.«
»Lass mich mal sehen, Kath«, sagte das Mädchen. Sie sah nicht alt genug aus, um Alkohol zu trinken, aber Annie war nicht hier, um die Einhaltung des Jugendschutzgesetzes zu überprüfen. Das Mädchen war ganz
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