Inspector Alan Banks 12 Wenn die Dunkelheit fällt
Flüchtlinge wie Katya oder Kinder, die ihre Heimat verlassen hatten, um durch die Welt zu ziehen. Sie mochten irgendwo zwischen Katmandu und dem Kilimandscharo sein. Er musste damit rechnen, dass sie das sechste Opfer nicht in naher Zukunft oder überhaupt nicht identifizieren würden. Ärgern tat es ihn trotzdem. Die Tote sollte einen Namen, eine Identität haben.
Annie stand auf. »Gut, ich hab gesagt, was ich sagen wollte. Ach, und dir wird wohl bald zu Ohren kommen, dass ich einen offiziellen Antrag gestellt habe, zur Kripo zurückzukommen. Glaubst du, das klappt?«
»Meinetwegen kannst du meine Stelle haben.«
Annie lächelte. »Das ist doch nicht dein Ernst.«
»Nicht? Egal, ich weiß nicht, ob das jetzt wieder geändert worden ist mit der Stellenausstattung der Kripo, aber ich red mal mit dem Roten Ron, wenn du glaubst, dass das hilft. Im Moment haben wir keinen Inspector. Ist bestimmt ein guter Zeitpunkt, um sich zu bewerben.«
»Bevor Winsome mich eingeholt hat?«
»Ist ein kluger Kopf, das Mädchen.«
»Und sieht gut aus.«
»Ja? Hab ich noch gar nicht gemerkt.«
Annie streckte die Zunge aus und ging. So traurig er über das Ende der kurzen Romanze war, ein bisschen erleichtert war er schon. Jetzt brauchte er sich nicht mehr täglich den Kopf zu zerbrechen, ob sie zusammen waren oder nicht: Er hatte seine Freiheit zurückerhalten, auch wenn sie ein ambivalentes Geschenk war. »Sir?«
Banks schaute auf. Winsome stand in der Tür. »Ja?«
»Steve Naylor hat sich gerade gemeldet, der Wachhabende von unten.«
»Gibt's Probleme?«
»Ganz und gar nicht.« Winsome grinste. »Es geht um Mick Blair. Er will reden.«
Banks rieb sich frohlockend die Hände. »Super! Richten Sie unten aus, er soll direkt hochgeschickt werden. In unser bestes Vernehmungszimmer, würde ich sagen, Winsome.«
Als Maggie am nächsten Morgen gepackt hatte und fertig für die Abreise nach London war, brachte sie Lucy eine Tasse Tee ans Bett. Es war das Mindeste, was sie für die arme Frau tun konnte, nach alldem, was sie in letzter Zeit durchgemacht hatte.
Sie hatten bis spät in die Nacht geredet und eine ganze Flasche Weißwein geleert. Lucy hatte angedeutet, wie furchtbar ihre Kindheit gewesen war und dass die jüngsten Ereignisse alles wieder wachgerufen hatten. Sie hatte Maggie anvertraut, welche Angst sie hatte, dass die Polizei Beweise gegen sie konstruieren würde, und dass sie den Gedanken nicht ertragen konnte, ins Gefängnis zu kommen. Die eine Nacht in der Zelle war fast schon zu viel für sie gewesen.
Die Polizei mochte keine Fragezeichen, hatte sie gesagt, und in diesem Fall sei sie ein ganz besonders großes. Sie wusste, dass sie beobachtet worden war. Deshalb war sie nach Anbruch der Dunkelheit aus dem Haus ihrer Pflegeeltern gehuscht und hatte den ersten Zug von Hull nach York genommen. Dort war sie in eine Bahn nach London umgestiegen, wo sie ihr Aussehen verändert hatte, hauptsächlich mit neuer Frisur, auffälligerem Make-up und anderer Kleidung. Maggie musste zugeben, dass man die Lucy Payne, die sie kannte, niemals in so einem lockeren Aufzug vermutet hätte. Ebenso wenig hätte sie sich auf diese leicht nuttige Art geschminkt. Maggie versprach, niemandem zu erzählen, dass Lucy bei ihr wohnte. Wenn ein Nachbar ihren Gast sähe und fragte, wer das sei, würde Maggie erwidern, Lucy sei eine entfernte Verwandte auf der Durchreise.
Beide Schlafzimmer, das große und das kleine, gingen auf die Straße hinaus. Als Maggie an die Tür des kleineren Zimmers klopfte und eintrat, stand Lucy am Fenster. Splitternackt. Sie drehte sich um. »Oh, danke. Das ist lieb von dir.«
Maggie errötete. Sie konnte nicht umhin wahrzunehmen, was für einen schönen Körper Lucy besaß - volle, runde Brüste, einen straffen, flachen Bauch, sanft geschwungene Hüften und weiche, schlanke Oberschenkel, dazu das dunkle Dreieck zwischen den Beinen. Lucy schien sich ihrer Nacktheit überhaupt nicht zu schämen, aber Maggie fühlte sich unwohl und senkte den Blick.
Zum Glück waren die Vorhänge noch zugezogen und das Licht ziemlich schwach. Lucy hatte die Gardinen oben einen Spalt breit geöffnet und beobachtete, was auf der anderen Straßenseite vor sich ging. In den letzten Tagen hatte das Treiben etwas nachgelassen, aber es war immer noch ein Kommen und Gehen. Der Vorgarten war das reinste Chaos.
»Hast du gesehen, was die da gemacht haben?«,
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