Inspector Alan Banks 12 Wenn die Dunkelheit fällt
Wahl?«
»Man hat immer eine Wahl.«
»Ja, zwischen richtig und falsch. Keine Sorge, ich werde keinen Aufstand machen. Aber wehe, wenn du dich geirrt hast mit den Folgen!«
»Glaub mir! Ich habe Recht.«
»Und morgen früh kannst du mir immer noch in die Augen sehen, klar.«
»Hör mal, apropos morgen früh. Ich fahre heute abend nach Gratly zurück. Das wird wohl spät werden, aber vielleicht hast du Lust vorbeizukommen? Ich könnte auch auf dem Weg bei dir vorbeigucken.«
»Weshalb? Für 'ne schnelle Nummer?«
»Schnell muss es nicht sein. Ich schlafe momentan so schlecht, meinetwegen können wir die ganze Nacht durchmachen.«
»Bestimmt nicht. Ich brauche meinen Schönheitsschlaf. Vergiss nicht, ich muss morgen früh gut ausgeruht sein, um nach Leeds zu fahren. Tschüs!«
Banks hielt das stumme Handy noch einen Moment am Ohr und schob es dann in die Tasche zurück. Junge, dachte er, das hast du aber wirklich prima hingekriegt, Alan, was? Echt kompetenter Umgang mit Menschen.
* 4
Samantha Jane Foster, achtzehn Jahre alt, ein Meter dreiundsechzig groß und sechsundvierzig Kilo schwer, studierte Englisch im ersten Semester an der Universität von Bradford. Ihre Eltern wohnten in Leighton Buzzard, wo Julian Foster Steuerberater und Teresa Foster praktische Ärztin war. Samantha hatte einen älteren Bruder, Alistair, arbeitslos, und eine jüngere Schwester, Chloe, die noch zur Schule ging.
Am Abend des 26. Februar besuchte Samantha eine Dichterlesung in einem Pub in der Nähe des Universitätsgeländes und brach gegen Viertel nach elf allein zu ihrem möblierten Zimmer auf. Sie wohnte ungefähr eine Viertelmeile entfernt in einer Nebenstraße der Great Horton Road. Als sie am Wochenende nicht zur Arbeit in der Buchhandlung Waterstone's im Stadtzentrum erschien, machte sich eine Kollegin, Penelope Hall, Sorgen und rief in der Mittagspause bei Samantha an. Samantha sei zuverlässig, erzählte sie später der Polizei, wenn sie nicht zur Arbeit kommen könne, weil sie krank sei, melde sie sich immer ab. Diesmal nicht. Weil Penelope befürchtete, Samantha könne ernsthaft krank sein, überredete sie den Vermieter, die Tür des möblierten Zimmers zu öffnen. Es war niemand da.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die Polizei von Bradford Samantha Fosters Verschwinden nicht ernst genommen hätte - wenigstens anfangs -, war ziemlich groß, wäre da nicht die Umhängetasche gewesen, die ein gewissenhafter Student am Abend zuvor auf der Straße gefunden und gegen Mitternacht abgegeben hatte. Sie enthielt eine Lyrikanthologie mit dem Titel New Blood, einen schmalen Gedichtband mit der Widmung »Für Samantha, zwischen deren seidige Schenkel ich gerne meinen Kopf betten und silbrig züngeln würde« und dem Autogramm des Dichters Michael Stringer, der am Abend die Lesung im Pub gehalten hatte. Des Weiteren fand sich darin ein Spiralblock voll lyrischer Gedanken, Beobachtungen und Reflexionen über Leben und Literatur, darunter Zeilen, die dem diensthabenden Beamten wie Beschreibungen halluzinogener Zustände und entkörperlichter Erfahrungen vorkamen. Außerdem eine halbleere Schachtel Benson & Hedges, eine rote Packung Rizzla Zigarettenpapier und eine kleine Plastiktüte mit Marihuana, weniger als sieben Gramm, ein grünes Einwegfeuerzeug, drei einzelne Tampons, ein Schlüsselbund, ein tragbarer CD-Spieler mit einer Tracy-Chapman-CD, eine kleine Kosmetiktasche und ein Portemonnaie mit fünfzehn Pfund in bar, einer Kreditkarte, einem Studentenausweis, Quittungen für Bücher und CDs und noch ein paar anderen Kleinigkeiten.
Die beiden Indizien - eine gefundene Umhängetasche und ein vermisstes Mädchen - erinnerten den jungen Constable, der mit dem Fall beauftragt wurde, an einen ähnlichen Vorfall am Silvesterabend im Roundhay Park in Leeds. Daher begannen die Ermittlungen noch am selben Morgen mit Anrufen bei Samanthas Eltern und engen Freunden. Aber niemand hatte sie gesehen oder gehört, dass sie ihre Pläne oder ihren Tagesablauf geändert hatte.
Kurzzeitig wurde der Dichter Michael Stringer, der im Pub aus seinem Werk gelesen hatte, verdächtigt, weil er die anzügliche Widmung in den Gedichtband geschrieben hatte, aber mehrere Zeugen sagten aus, er habe in der Innenstadt von Bradford weitergetrunken und hätte gegen halb vier zurück ins Hotel gebracht werden müssen. Die Hotelangestellten versicherten der Polizei, dass er nicht vor fünf Uhr nachmittags
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