Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
Aber ansonsten ... keine Ahnung. Er hat hinterher nicht mehr oft drüber gesprochen.«
Annie ließ sich die Antwort durch den Kopf gehen und machte sich Notizen. Sie vermutete, dass mehr dahinter steckte, als Robin durchblicken ließ. Aber vielleicht irrte sie sich. Kinder konnten erstaunlich belastbar sein. Und unerwartet sensibel.
»Haben Sie noch Kontakt zu den Verwandten oder Freunden von Neil Byrd?«, fragte Annie.
»Du lieber Gott, nein. Neils Eltern sind beide früh gestorben - das gehörte auch zu den Dingen, die ihn quälten -, und ich verkehre nicht mehr in diesen Kreisen.«
»Dürfte ich Lukes Zimmer sehen?«
»Sicher.« Robin führte Annie in die Diele und eine abgetretene Steintreppe hinauf ins Obergeschoss, wo sie nach links abbog und die schwere Eichentür des zweiten Zimmers öffnete.
Annie knipste die Nachttischlampe an. Es dauerte einen Augenblick, bis ihr klar wurde, dass der Raum, vom Teppichboden abgesehen, völlig schwarz war. Er ging nach Norden, bekam also nicht viel Sonne ab, und sah selbst im Licht der Nachttischlampe - ein Deckenlicht gab es nicht - düster aus. Allerdings war das Zimmer aufgeräumter, als sie erwartet hatte, ja, es war fast spartanisch eingerichtet.
Luke hatte das Sonnensystem und Sterne an die Decke gemalt oder malen lassen. An einer Wand hingen Poster von Rockstars. Als Annie näher herantrat, konnte sie die Namen lesen: Kurt Cobain, Nick Drake, Jeff Buckley, Ian Curtis, Jim Morrison. Zwar hatte sie von den meisten schon mal gehört, aber Banks wusste bestimmt mehr über sie. Keine Sportler, stellte Annie fest. Auf der anderen Wand stand mit silberner Sprühfarbe: »Le Poete se fait voyant par un long, immense et raisonné déreglement de tous les sens.« Die Worte kamen ihr bekannt vor, aber sie wusste nicht, woher, ihr Französisch reichte nicht aus, um sie zu übersetzen. »Wissen Sie, was das heißt?«, fragte Annie.
»Tut mir Leid«, sagte Robin. »Französisch war in der Schule nicht gerade meine Stärke.«
Annie schrieb den Satz in ihr Notizbuch. An einem kleinen Verstärker unter dem Fenster lehnte eine E-Gitarre, auf einem Schreibtisch stand ein Computer und neben dem Kleiderschrank war eine kleine Stereoanlage mit einem Stapel CDs. Auf der Kommode lag ein Geigenkasten. Annie öffnete ihn. Tatsächlich, er enthielt eine Geige.
Sie sah die CDs durch. Von den meisten Gruppen - Incu-bus, System of a Down und Slipknot - hatte sie noch nie gehört, aber sie kannte einige der älteren Bands wie Nirvana und R. E. M. Luke hatte sogar alte Platten von Bob Dylan.
Obwohl Annie praktisch nichts über den Musikgeschmack fünfzehnjähriger Jungen wusste, ahnte sie doch, dass Bob Dylan normalerweise nicht dazugehörte.
Von Neil Byrd war nichts dabei. Wieder wünschte sich Annie, Banks wäre bei ihr; ihm hätte diese Auswahl etwas gesagt. Die letzte CD, die Annie sich gekauft hatte, war eine Zusammenstellung von Gesängen tibetischer Mönche für ihre Yoga- und Meditationsübungen.
Annie warf einen Blick auf den Bücherschrank: viele Romane, unter anderem Söhne und Liebhaber, Der Fänger im Roggen und Der große Meaulnes, daneben die gängigere jugendliche Kost, Philip Pullman, Kurzgeschichten von Ray Bradbury und H. P. Lovecraft, mehrere Lyrik-Anthologien und ein großformatiges Buch über präraffaelitische Kunst. Das war es im Großen und Ganzen.
Ansonsten gab das Zimmer bemerkenswert wenig her. Luke hatte kein Adressbuch, jedenfalls fand Annie keins. Außer Büchern, Kleidungsstücken und CDs war nicht viel zu sehen. Robin erzählte, dass Luke immer eine abgewetzte Umhängetasche aus Leder bei sich trug, nie ohne sie aus dem Haus ging, und dass alles, was ihm wichtig war, in ihr sein musste, auch sein ultraleichtes Laptop.
In einer Schublade fand Annie Manuskripte, Kurzgeschichten und Gedichte, das Datum auf dem jüngsten Ausdruck lag ein Jahr zurück. Annie fragte, ob sie die Texte ausleihen dürfe, um sie sich genauer ansehen zu können. Sie merkte, dass es Robin nicht recht war, hauptsächlich wohl aus Sorge um Lukes Privatsphäre. Andererseits fand man oft Erstaunliches, wenn man in den richtigen Ecken schnüffelte. Annie erwartete nicht, dass ihr die schöpferischen Arbeiten viel verraten würden, aber immerhin konnten sie ihr einen Einblick in Lukes Innenleben geben.
Es brachte nichts, sich noch länger in Lukes Zimmer aufzuhalten, außerdem schlugen Annie die schwarzen Wände aufs
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