Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
nachgegangen, es gebe eine Schutzgeld-Organisation nach dem Vorbild der Londoner Kray-Gang, ein Mann namens Carlo Fiorino sei der Kopf der Bande, aber er wurde nicht vor Gericht gestellt.
Je länger Michelle las, desto klarer wurde ihr, wie weit 1965 von der heutigen Zeit entfernt war. Michelle war 1961 geboren, auch wenn sie das Banks nicht hatte verraten wollen. Ihre Jugend hatte sie in einem Umfeld verbracht, das Banks zweifellos als musikalisches Ödland bezeichnen würde. Es bestand aus den Bay City Rollers, Elton John und Hot Choco-late, von Saturday Night Fever und Grease ganz zu schweigen. Punk kam auf, als Michelle um die fünfzehn war, aber sie war viel zu konservativ, um daran Gefallen zu finden. Ehrlich gesagt, hatten ihr die Punks mit ihren zerrissenen Klamotten, den Igelfrisuren und Sicherheitsnadeln im Gesicht immer Angst gemacht. Und die Musik war für sie reiner Krach.
Allerdings hatte Michelle für Popmusik nie besonders viel Zeit gehabt; sie war ein fleißiges Kind gewesen, hatte immer noch an den Hausaufgaben gesessen, wenn die anderen längst ihre Hefte zugeklappt hatten und die Straßen unsicher machten. Michelles Mutter sagte, ihre Tochter sei eine Perfektionistin, sie könne sich einfach nicht mit Minderwertigem zufrieden geben, und vielleicht war das richtig. Gewissenhaft. Gründlich. So war Michelle von Freunden, Verwandten und Lehrern bezeichnet worden. Sie hasste es. Wieso sagten die anderen nicht einfach, sie sei ein langweiliger Streber, wenn sie das meinten? Dann war es doch gut.
Trotz der harten Arbeit war Michelle in der Schule kein Überflieger gewesen, aber sie hatte in ausreichend Fächern O- und A-Level abgelegt, um auf dem Polytechnikum angenommen zu werden. Dort hatte sie Betriebswirtschaftslehre studiert (und gebüffelt, während die Kommilitonen auf Konzerte und Feten gingen) und sich schließlich für eine Laufbahn bei der Polizei entschieden. Wenn sie Ende der Siebziger mal Zeit zum Ausgehen hatte, war sie gern Tanzen gegangen. Sie mochte Reggae oder Ska: Bob Marley, The Specials, Madness, UB40.
Die »Nostalgiker«, wie Michelle sie nannte, waren noch nie ihr Fall gewesen, und am schlimmsten waren ihrer Meinung nach die aus den Sechzigern. Michelle vermutete, dass Banks auch dazugehörte. Wenn man die Nostalgiker reden hörte, konnte man meinen, das Paradies sei verloren oder das Jüngste Gericht stehe kurz bevor, weil so viele große Rockidole tot, senil oder verrückt waren und niemand mehr Perlenketten und Kaftan trug. Bei dem Geklage bekam man den Eindruck, Drogen seien eine harmlose Möglichkeit, mal ein paar Stunden zu entspannen, oder ein Mittel, um eine höhere Bewusstseinsebene zu erreichen, jedenfalls nicht Verschwendung von Leben und Einnahmequelle für skrupellose Dealer.
Es war ruhig im Archiv, nur die Leuchtstoffröhre summte. Auf einem Polizeirevier, wo alle in Großraumbüros zusammengepfercht sind, ist Stille etwas Seltenes. Hier unten konnte Michelle sogar ihre Uhr ticken hören. Schon nach fünf. Zeit für eine kurze Pause, vielleicht mal frische Luft schnappen und dann weitermachen.
Als sie die Anzeigen von August durchging, spürte sie, dass sich jemand näherte. Sie schaute auf und sah Detective Superintendent Benjamin Shaw vor sich.
Shaws massiger Körper füllte den Türrahmen aus. Im Kabuff wurde es dunkler. »Was machen Sie da, Inspector Hart?«, fragte er.
»Ich blätter nur die alten Dienstbücher durch, Sir.«
»Das sehe ich. Wozu? Da werden Sie nichts finden. Das ist zu lange her.«
»Ich hab mich nur ganz allgemein umgeguckt, hab ein bisschen Kontext zum Fall Marshall gesucht. Ach, ich hab mich gefragt...«
»Kontext? Ist das eins von diesen schicken Wörtern, die Sie an der Uni lernen? Hört sich für mich an wie reine Zeitverschwendung.«
»Sir ...«
»Keine Diskussion, Inspector Hart. Das ist Zeitverschwendung. Was erwarten Sie denn in den verstaubten alten Ordnern zu finden, abgesehen vom Kontext?«
»Ich hab heute Nachmittag mit einem Freund von Graham Marshall gesprochen«, sagte Michelle. »Er sagte, er sei zirka zwei Monate, bevor der kleine Marshall verschwand, am Fluss von einem Fremden angesprochen worden. Ich wollte nur sehen, ob ähnliche Vorkommnisse aktenkundig sind.«
Shaw setzte sich auf die Tischkante. Der Tisch knarrte und neigte sich leicht. Michelle befürchtete, das Möbel würde unter Shaws Gewicht zusammenbrechen. »Und?«, fragte Shaw. »Jetzt
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