Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
zwischen dem Vorfall, den Banks geschildert hatte, und dem Verschwinden von Graham Marshall. Das war das Problem. Michelle überlegte, ob Banks' Schuldgefühl seine Erinnerung im Lauf der Jahre verzerrt haben mochte. So was kam vor, sie hatte es schon erlebt. Was war wirklich passiert? Wer war der Fremde?
Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass sie in den Polizeiakten nichts über ihn finden würde, das war Michelle klar. Nicht über jeden gab es eine Akte, auch wenn Kritiker der Polizei das behaupteten. Vielleicht würde sie im Zeitungsarchiv oder in der ortsansässigen Nervenheilanstalt recherchieren müssen. Der Mann schien geistig verwirrt gewesen zu sein, da bestand die Möglichkeit, dass er irgendwo in Behandlung war. Natürlich war es genauso gut möglich, dass er aus einer anderen Gegend kam. Michelle wusste nicht genau, wo der Fluss Nene entsprang, vielleicht in der Nähe von Northampton. Sie wusste nur, dass der Fluss in den Wash mündete. Vielleicht folgte dieser Mann dem Verlauf des Wassers.
Frustriert blätterte Michelle einen Ordner nach dem anderen durch und schob sie zur Seite. Ihre Augen waren schon müde, da kam ihre große Stunde.
* 7
Der rund hundert Meter entfernte Pub Coach and Horses hatte sich im Laufe der Jahre verändert, stellte Banks fest, aber nicht so stark wie manch anderes Lokal. Die große Gastwirtschaft hatte immer schon ein buntes Publikum gehabt, mehrere Generationen tranken dort Seite an Seite. Das war noch immer so, obwohl sich die gesellschaftliche Zusammensetzung verschoben hatte. Jetzt saßen Pakistani und Sikhs zwischen Menschen mit heller Hautfarbe, und wenn man Arthur Banks glauben durfte, frequentierte auch eine in der Nähe wohnende Gruppe von Asylsuchenden aus dem Kosovo das Lokal.
Der alte Billardtisch war von lärmenden Automaten mit blitzenden Lichtern verdrängt worden, statt verkratzten Holzbänken gab es jetzt welche mit Polstern, vielleicht waren auch Tapeten und Lampen erneuert worden - aber das war's auch schon. Banks' Vater hatte erzählt, dass die Brauerei Mitte der Achtziger etwas für eine geringfügige Modernisierung hatte springen lassen, weil sie hoffte, damit jüngeres, spendierfreudiges Publikum anzulocken. Aber es funktionierte nicht. Wer im Coach and Horses trank, war den Großteil seines Lebens dorthin gegangen. Und davor der Vater. Hier hatte Banks an seinem achtzehnten Geburtstag mit seinem Dad sein erstes legales Bier getrunken, auch wenn er schon mit sechzehn mit seinen Freunden im Wheatsheaf, etwa eineinhalb Kilometer entfernt, gebechert hatte. Bei seinem letzten Besuch im Coach and Horses hatte Banks eines der ersten Videospiele ausprobiert, dieses idiotische Programm, bei dem man einen Tennisball über einen grün glühenden Bildschirm schlagen musste.
Als Banks um kurz nach acht mit seinem Vater das Coach and Horses betrat, waren nur wenige junge Leute da, dennoch machte das Lokal einen warmen, lebendigen Eindruck. Die Dampfnudeln mit Vanillesoße von seiner Mutter - ihrer Meinung nach vernünftiges Essen - lagen Banks schwer im Magen. Sein Vater hatte den Weg ohne großes Schnaufen und Keuchen zurückgelegt, angeblich schaffte er das nur, weil er vor zwei Jahren mit dem Rauchen aufgehört hatte. Mit schlechtem Gewissen hatte Banks seine Jackentasche beim Verlassen des Hauses nach Zigaretten abgeklopft.
Das Coach and Horses war Arthur Banks' Stammkneipe. Seit vierzig Jahren kam er fast täglich her, genau wie seine alten Spezis Harry Finnegan, Jock McFall und Norman Grenfell, der Vater von Dave. Hier hatte Arthur einen Namen. Hier konnte er seinen Krankheiten und der Schande der Arbeitslosigkeit wenigstens ein, zwei Stunden lang entfliehen, wenn er mit den Männern, in deren Gesellschaft er sich am wohlsten fühlte, trank, lachte und Geschichten erzählte. Denn eigentlich war das Coach and Horses eine Männerkneipe, auch wenn zwischendurch mal ein Pärchen oder eine Gruppe Frauen nach Feierabend vorbeischaute. Wenn Arthur mit Ida vor die Tür ging, freitagabends, besuchten sie das Duck and Drake oder das Duke of Wellington, wo Ida Banks sich den neuesten Tratsch anhörte, wo sie an Quizspielen teilnahmen und sich über die Gäste amüsierten, die sich beim Karaoke lächerlich machten.
So was gab es im Coach and Horses nicht, der Sechziger-Jahre-Pop aus der Konserve war so weit heruntergedreht, dass die Alten sich unterhalten konnten. Gerade sangen die Kinks »Waterloo Sunset«, eins von Banks'
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