Inspector Barnaby 03 - Ein Böses Ende
ihn das letzte Mal gesehen?«
»Ist schon eine Weile her. Unsere Beziehung war eng, doch wir sahen uns nicht sehr oft, nachdem ich ausgezogen war. Ich war achtzehn. Wir hatten eine Auseinandersetzung. Ich hatte eine Beziehung zu einer wesentlich älteren, verheirateten Frau. Das war das einzige Mal, daß wir einen echten Konflikt hatten. Er hielt mein Verhalten für unmoralisch. War ein wenig altmodisch. Er war richtig sauer. Seine Enttäuschung löste bei mir Schuldgefühle aus, und da lief ich weg. Der Streit dauerte keine fünf Minuten - und die Affäre auch nicht -, aber von da an wohnte ich nur noch kurzfristig bei ihm. Ich war ein bißchen so was wie ein Rumtreiber, fürchte ich. War gern unterwegs und arbeitete, wo und wann sich die Gelegenheit bot, manchmal sogar im Ausland. Ich half bei der Traubenernte in Italien und Frankreich, zog weiter, lebte dann auf einer Skihütte in den Alpen. Arbeitete bei einem Zirkus in Spanien - ausgerechnet als Löwenbändiger, aber das waren arme, zahnlose Tiere. Ging in die Staaten - konnte keine Arbeitserlaubnis kriegen. Habe mich dort eine Weile lang illegal aufgehalten und bin dann zurückgekommen. Verdingte mich eine Zeitlang auf der Golden Mile in Blackpool, auf dem Rummelplatz. Alles ziemlich pittoresk. Oder schäbig, je nachdem, wie alt man ist und wie tolerant.«
»Sie hielten immer Verbindung zu Ihrem Onkel?«
»Aber sicher doch. Ich schrieb regelmäßig. Und besuchte ihn immer zwischen zwei Einsätzen. Er päppelte mich dann ein bißchen auf. Hielt mir niemals Vorträge, obwohl ihn meine Entwicklung vermutlich etwas enttäuscht hat. Akzeptierte mich als das, was ich bin. Als schwarzes Schaf.«
Diese letzten Worte wurden so leise ausgesprochen, daß Barnaby sich anstrengen mußte, sie zu verstehen, doch Carters Miene sprach eine eindeutige Sprache. In seinen Augen loderte eine brodelnde Mischung aus Angst und Verzweiflung. Seine Kinnmuskeln verspannten sich in dem Bemühen, das Beben seiner Lippen zu besänftigen. Als Troy mit der Fotografie und neuem Kaffee zurückkehrte, gab Barnaby ihm mit einer herrischen Handbewegung zu verstehen, daß er warten sollte.
»Wann ist Ihr Onkel nach Windhorse gezogen?«
Carter atmete tief durch. Es dauerte einen Moment, bis er eine Antwort gab. Er vermittelte den Eindruck, sich mühsam zu wappnen für den nächsten Schritt, als konfrontiere ihn dieser mit der Quelle seines Elends.
»Er schrieb mir von seinem Eintritt in die Kommune, als ich in den Staaten war. Ich muß einräumen, daß ich nicht gerade überrascht war. Er ist nie verheiratet gewesen. Als Kind war ich darüber froh. Weil das bedeutete, daß ich ihn mit niemandem teilen mußte. Außerdem ist er schon immer ein wenig... ähm... einsiedlerisch gewesen. Zu bestimmten Tageszeiten bat er darum, in Ruhe gelassen zu werden, um einfach still dazusitzen. Ich nehme mal an, heute würde man das Meditieren nennen. Fast alle seine Bücher hatten einen religiösen oder philosophischen Inhalt. Bhagavad-Gita, Tagore, Pascal. Soweit ich weiß, beschäftigte er sich während meiner gesamten Kindheit mit diesen Themen. Die meisten stehen jetzt noch in seinem Zimmer auf Manor House. Hat mich echt fertiggemacht, als ich sie fand...«
Er brach ab, preßte die Knöchel seiner Hand an den Mund, als könne er damit unsichtbare Gefühlsregungen im Zaum halten. Als er die Hand wegnahm, waren seine Lippen blutleer. Diskret plazierte Troy die Fotografie auf dem Schreibtisch.
»Das geschah achtzehn Monate vor meiner Heimkehr nach England. Ich zog in ein Zimmer in Earl’s Court, übermittelte ihm schriftlich meine neue Adresse und Telefonnummer und benachrichtigte ihn, daß ich für ein verlängertes Wochenende zu Besuch kommen würde, sobald ich eine Arbeit gefunden habe. Es ging ihm nicht besonders gut. Er hatte Magenprobleme. Dann, ein paar Tage später, erhielt ich den Brief.« Er nahm wieder den Umschlag in die Hand und zog ein liniertes Blatt Papier heraus, das er Barnaby aushändigte. Darauf stand geschrieben: Andy, etwas Schreckliches ist passiert. Rufe dich morgen abend (Donnerstag) um acht Uhr aus dem Dorf an. Kann nicht vom Haus aus telefonieren. Sei bitte auf jeden Fall da. In Liebe, Jim. Der letzte Satz war dick unterstrichen.
»Danach habe ich nie wieder was von ihm gehört. Am Freitag blieb ich bis zum Mittagessen daheim. Schließlich habe ich in Manor House nachgefragt. Ich konnte es echt nicht fassen, als sie mir sagten, daß er
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