Inspector Barnaby 05 - Treu bis in den Tod
wollte, wie es die meisten von Avis’ Bekannten getan hätten. Und - was noch viel erstaunlicher war - sie fragte auch nicht, was Avis denn, kurz bevor sie gekommen war, so Überraschendes und Aufregendes gesehen hätte. Avis fand das höchst eindrucksvoll. Sie bewunderte Sarah außerordentlich für ihre Selbstbeherrschung, obwohl sie fand, daß ihre eigene Zurückhaltung auch nicht ganz zu verachten war. Sie hätte nämlich liebend gern ein Stückchen von dem köstlichen Rumkuchen gegessen. Einen Moment lang fragte sie sich, ob Sarah vielleicht gar nicht ihre Neugier zügelte, sondern tatsächlich kein Interesse hatte. Das konnte aber doch nicht sein. Vermutlich wollte sie sich nur über die gewöhnliche menschliche Neugier erhaben zeigen. Durchaus verständlich.
Doch dann, als ob sie all diesen Vermutungen trotzen wollte, sagte Sarah mit humorvoller Nachsicht in der Stimme: »Na los. Erzählen Sie, was Sie gesehen haben.«
»Vor etwa einer halben Stunde fuhr ein Auto bei Nightingales vor. Ein schwarzer Mercedes.«
»Simone ist wieder da?«
»Nein. Es war ein Mann mit einer Aktentasche. Alan hat ihn reingelassen. Er blieb nur wenige Minuten, aber als er rauskam, hatte er die Tasche nicht mehr dabei.«
Sarah fing schallend an zu lachen. »Hier möchte ich wirklich nichts geheimhalten müssen.«
»Es war reiner Zufall, daß ich gerade vorbeikam.« Avis errötete in dem Bemühen, sich zu rechtfertigen. »Ich wollte Mrs. Perkins ein neues Rezept gegen ihre Arthritis bringen. Dann braucht sie nicht in die Praxis zu kommen.«
»Haben Sie die Autonummer aufgeschrieben?«
»Schon gut, schon gut.« Aus Verdruß, wie eine dumme Gans dazustehen, holte Avis die Dose hervor und schnitt sich ein großes Stück Kuchen ab. Dabei vergaß sie sogar ihre Sorge, undiszipliniert zu erscheinen. »Aber Sie können doch nicht abstreiten, daß das alles sehr mysteriös ist. Beispielsweise hat Alan das Haus nicht verlassen, seit Simone verschwunden ist. Man sollte doch erwarten, daß er nach ihr sucht.«
»Vielleicht weiß er nicht, wo er anfangen soll.«
»Und was ist mit seiner Arbeit?«
»Was soll mit seiner Arbeit sein?« wiederholte Sarah, wobei sie mit ihrer ruhigen Stimme das zweite Wort betonte.
»Alle sagen, er dreht vollkommen durch.«
»Woher wissen die das denn, wenn er das Haus nicht verlassen hat?«
»Ach!« Avis’ Stimme nahm einen gereizten Ton an. Sie schluckte ihren Bissen Kuchen und ließ die Gabel klirrend auf den Teller fallen. »Warum sind Sie immer so...« Da sie pedantisch für möglicherweise beleidigend hielt, entschied sie sich für »rational«.
»Weil mich alles Irrationale beunruhigt.«
Die beiden Frauen sahen sich an. Avis schluckte noch einmal, diesmal vor lauter Aufregung. Bis zu diesem Tag hatte Sarah noch nie etwas Persönliches, und sei es auch noch so harmlos, preisgegeben. Und jetzt gleich zweimal hintereinander. Avis war wild entschlossen, das als Freundschaftsangebot zu betrachten, und ihre Gedanken eilten in die Zukunft. Sie würden sich gegenseitig ihre komplette Lebensgeschichte erzählen und über alles reden, über banale wie tiefsinnige Dinge. Sarah würde von ihrer Arbeit reden, und Avis würde jede Menge über Kunst, Musik und Literatur erfahren. Sie sah schon, wie ihr Horizont sich erweiterte, wie ihre schlichte kleine Welt zu etwas wurde, das gleichzeitig komplexer und würdevoller war. Ihr Geist würde sich öffnen wie eine Blume.
Sarah trank ihren Kaffee aus und stand genauso ruhig und gelassen auf, wie sie gekommen war. Sie nahm ihre hübsche gesprenkelte Schüssel mit den Eiern und ging auf die Tür zu.
»Sehen wir uns nächste Woche wieder?« fragte Avis, die sich bereits darauf freute.
»Ich glaub kaum. Mit den Eiern komm ich sicher eine Weile aus.«
»Die verrückte Alte von nebenan war bei der Polizei.«
»Woher weißt du das?«
»Teddy Grimshaw hat sie gesehen. Er hat in der Schlange am Rentenschalter darüber geredet.« Nicht daß Reg selbst in der Schlange gestanden hätte. Die beiden Renten der Brockleys flossen direkt auf sein Bankkonto. Doch das Postamt fungierte gleichzeitig als Zeitungsladen, und er war dort, um die monatliche Rechnung für den Daily und den Sunday Express, die Radio Times sowie - für Iris - die Lady zu bezahlen. Die Gartenzeitschrift Green Fingers, die sie viele Jahre bezogen hatte, war kürzlich abbestellt worden, nachdem eine Gastkolumnistin die
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