Inspector Jury besucht alte Damen
es noch etwas komplizierter geworden.»
«Was soll das heißen?»
Nirgendwo ein Plätzchen zum Hinsetzen. Jury sagte: «Sie haben recht gehabt; ich finde, wir sollten ein Stück laufen und uns einen Platz zum Sitzen suchen.»
«Das Sommerhaus –»
«Nein.»
«Ich dachte, vielleicht möchten Sie Tee –»
«Dafür hat freundlicherweise schon Ihre Großmutter gesorgt.» Als sie das zweite ausgetrocknete Wasserbecken umrundeten, fiel Jury auf einmal der Tee von vorgestern ein. Den hatte doch er gemacht und hineingebracht. Sie hatte ihren nicht getrunken, hatte ihn buchstäblich nicht angerührt. Natürlich war sie, wie sie sagte, sehr gedrückter Stimmung gewesen, und das dürfte erklären, warum sie sich gern hatte bedienen lassen. Sie hatte ihn gebeten, den Tee zuzubereiten; sie hatte ihn gebeten, sich seinen Tee selbst zu machen. Hatte sie keine Fingerabdrücke auf der Tasse hinterlassen wollen?
«Ich habe die Frau gefunden, mit der sich Ihr Mann getroffen hat.» Er wartete, doch sie sagte nichts. Sie saßen jetzt auf derselben Holzbank in dem Boskett, wo er schon vor einer Stunde gesessen hatte. «Sie wohnt in Limehouse. Eine gutverdienende Innenausstatterin. Sie hat sich einen von diesen Lofts eingerichtet, die ein Vermögen kosten.» Sie sagte immer noch nichts. «Interessiert Sie das nicht?»
Sie lehnte sich zurück, blickte zum Himmel hoch, der sich jetzt zu Schiefer verhärtet und verdunkelt hatte, und sagte: «Es scheint keinen Unterschied mehr zu machen. Ist sie hübsch?»
Jury lächelte und betrachtete ihr makelloses Profil. «Sie sind schöner.»
Dann sagte sie, und dabei splitterte die dünne Eisschicht, die über ihren Antworten gelegen hatte: «Wenn ich also eine Mörderin bin, dann zumindest eine gutaussehende.» Ihr Ton klang hoffnungslos, nicht etwa erbittert.
«Da ist noch etwas, und das ist wichtiger. Die andere Frau, mit der er sich getroffen –»
«Die andere? Mein Gott, er muß ja die Übersicht verloren haben. Diane Demorney wäre dann die dritte. Wer ist diese andere?»
Er zog die Fotos der Toten aus dem Umschlag, reichte ihr zunächst das am wenigsten entstellte, eine Aufnahme, die sich fast ausschließlich auf das Gesicht konzentrierte, wo kein Blut geflossen war. Und selbst ihn, der sie schon ein dutzendmal gesehen hatte, machte die Ähnlichkeit aufs neue betroffen. Er beobachtete ihr Gesicht. Zuerst sah sie nur verblüfft aus, dann wuchs ihr Erstaunen. Sie schüttelte ungläubig den Kopf, schloß die Augen, als wollte sie die Vision ihres eigenen Leichnams fortscheuchen, und sagte: «Was soll das? Wer ist das?»
«Sie haben sie noch nie gesehen?»
Die Augen wurden hart, blitzten metallisch. «Darf ich auch die anderen ansehen?»
Sie streckte die behandschuhte Hand aus, und Jury reichte ihr die schlimmsten Fotos. Nicht allzu schlimm, verglichen mit manchen Leichen, die im eigenen Blut schwammen und deren Kleider ihnen deshalb am Leib klebten. Aber es sickerte Blut durch die Bluse und floß ihr wie ein Rorschachmuster über die Schultern. Sie sagte nichts und gab das Bild zurück; dann sah sie sich die beiden anderen an und sagte wieder nichts. Ein kleiner, zittriger Seufzer.
«Sie heißt Sarah Diver. Wohnte in Limehouse.»
Sie legte den Kopf in die Hände, die Ellbogen auf die Knie gestützt. «Hat er sie umgebracht?»
«Nein, das glauben wir nicht.»
Jury folgte ihr, als sie aufstand und im Garten umherwanderte. Die Schatten, welche das Gebüsch warf, schirmten ihr Gesicht vor ihm ab. «Wann haben Sie von Scheidung gesprochen? Wie lange ist das her, meine ich?»
«Ich weiß nicht mehr. Vor ein paar Monaten vielleicht. Zwei, drei.»
«Um die Zeit könnte er sie kennengelernt haben; vor zwei Monaten.» Keine Antwort. «Sie sind doch nicht dumm; wenn Sie sich von ihm hätten scheiden lassen, er hätte auf der Straße gestanden. In solch einer Lage greifen Männer oft zu verzweifelten Mitteln. In diesem Fall zu sehr verzweifelten, wenn man bedenkt, was er zu verlieren hatte. Aber auch zu sehr gut durchdachten.» Sie sagte immer noch nichts. «Sie selbst haben gesagt, er wäre in seiner Wut wohl fähig gewesen, Sie umzubringen.»
«Sie wollen doch nicht etwa andeuten …»
«Was?»
«Daß diese Frau mich verkörpern sollte? Das ist unmöglich.»
«Es ist durchaus möglich, wenn Sie mal ein bißchen darüber nachdenken. Wen mußte sie schließlich überzeugen außer Lady Summerston, Crick und Ihrer Halbtagshilfe. Und dann noch hier und da ein paar Freunde, falls es
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