Inspector Jury besucht alte Damen
um nur ja alles mitzubekommen. Der Sergeant verstummte mitten in seiner bluttriefenden Abhandlung, um aus einem Glas ein suppenartiges Gebräu zu trinken, dessen dunkle Sämigkeit das Ergebnis zerbröselter Kekse zu sein schien.
«Sobald Sie Ihre Gedanken von dem Schlachthaus losreißen können, bemühen Sie sich freundlicherweise zur Hauptwache von Wapping und unterhalten sich mit dem Zuständigen im Fall Diver. Ich werde Ruby Firth auftreiben.» Bei der Erwähnung von einem Meer, einem Fluß oder einer Senkgrube machte Wiggins unweigerlich ein Märtyrergesicht. «Sie müssen ja nicht hinschwimmen, Wiggins.» Jury wollte es sich eigentlich verkneifen, aber dann fragte er doch. «Was ist das bloß für ein Zeug, das Sie da trinken?»
«Gut gegen alles mögliche, Sir. Zerkrümelte Kohlekekse. Dann glauben Sie also, daß zwischen diesen beiden Morden ein Zusammenhang besteht?»
«Wäre schon verdammt merkwürdig, wenn nicht.» Jury schob die Tür auf.
«Man hat schon Pferde vor der Apotheke kotzen sehen.»
«Aber nicht viele», sagte Jury, als sie in einen feinen Nieselregen hinaustraten.
20
S IE HATTE DAS H AAR in den hochgeschlagenen Kragen ihres Trenchcoats gestopft und hatte sogar im Regen noch die Sonnenbrille auf. Ihre Bewegungen waren bestimmt – wie sie die Tür des Cortina, Polizei-Version, zuschlug; wie sie den Fahrer ignorierte; wie sie einfach davonging.
Als Jury den alten schmalen Limehouse Crossway überquerte, sah er ganz deutlich den Jungen, der ausstieg und ihr folgte. Fünfzehn, vielleicht sechzehn, mager und eher feingliedrig, noch hübsch. Eine Bö fuhr ihm ins braune Haar, und als er es zurückstrich, da wollte er Jury bekannt vorkommen. Wo hatte er den Jungen schon einmal gesehen?
Das Auto fuhr gerade an, als Jury es erreichte. «Ich interessiere mich für den Fall Diver. Und ich suche eine Frau, eine gewisse Ruby Firth. Das ist sie nicht zufällig gewesen, oder?»
Der Fahrer in der Uniform der Flußpolizei musterte ihn feindselig und antwortete nicht.
«Tut mir leid», sagte Jury und zog seinen Ausweis hervor. «Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten.»
Die Miene des Fahrers veränderte sich, jedoch nicht zum Besseren. Anstelle der früheren Feindseligkeit trat eine andere, und die wurde dem Anlaß eher gerecht. Die Flußpolizei mochte es nämlich nicht, wenn ein Kriminaler vom Präsidium die Nase in ihre Angelegenheiten steckte.
«Klettern Sie rein.» Er stellte sich als Roy Marsh und den Wachtmeister als Ballinger von der Limehouse-Wache vor. Mit halb abgewandtem Gesicht und dem Hauch eines Lächelns fragte Marsh: «Sollten wir Ihre Hilfe brauchen?»
Jury betrachtete das Profil und die fadendünne Narbe am Mundwinkel. Marsh wandte sich nach vorn und musterte Jury im Rückspiegel. Seine Augen brannten wie Jodtinktur.
«Nein. Aber ich brauche Ihre.» Jury holte eine neue Zigarettenschachtel hervor und bot sie an. Marsh schüttelte den Kopf; Ballinger bediente sich.
«Was interessiert Sie eigentlich an Ruby Firth?» fragte Marsh und trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum.
«Mit was für Männern sie zusammen ist.»
Das Getrommel hörte jäh auf. Marsh drehte sich auf dem Sitz um und fragte: «Was soll das heißen?»
«In Northants ist ein Mord passiert. Ein gewisser Simon Lean.»
Roy Marshs Miene veränderte sich. Jury spürte seine Anspannung.
«Und wer soll das sein?»
«Sie stellen mehr Fragen, als Sie beantworten, Roy. War das Ruby Firth, die gerade aus Ihrem Auto gestiegen ist?»
Nach der Miene, die Roy Marsh jetzt machte, war sich Jury ganz sicher. Roy Marshs Interesse an der Frau ging über die Formalitäten einer amtlichen Untersuchung hinaus. «Ja», war seine knappe Antwort.
«Wer ist der Junge bei ihr?»
Marsh antwortete nicht gleich.
Constable Ballinger schien die Spannung zwischen Marsh und Jury zu spüren und mischte sich ein. «Tommy Diver, Sir. Sarah Divers Bruder. Ist gerade auf Besuch gekommen und dann …» Ballinger deutete mit dem Kopf in Richtung Narrow Street, wo Jury so gerade noch eine Traube Polizisten ausmachen konnte. «Der Junge war heute morgen da, als wir hinkamen und uns das Haus ansehen wollten. Vor den Jungs vom Erkennungsdienst. Die Diver wollte ihn eigentlich gestern abend zu Hause erwarten, aber sie ist nicht aufgetaucht. Jetzt wissen wir ja auch warum. Pech für den Jungen, daß er gerade da war und die Leiche identifizieren mußte.» Hier warf Ballinger Roy Marsh rasch einen Blick zu. Marsh sagte nichts, und so fuhr
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