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Inspector Jury besucht alte Damen

Inspector Jury besucht alte Damen

Titel: Inspector Jury besucht alte Damen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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Ballinger fort: «Der Bruder hat gesagt, sie ist es nicht, jedenfalls ist sie nicht so, wie er sie in Erinnerung hat. Die da wäre dünner, ihr Haar nicht so rötlich, kein Make-up, brave Kleider. Aber er hat sie schon lange nicht mehr gesehen.» Ballinger hob die Schultern. «Seine Verwandten kommen aus Gravesend, um ihn abzuholen und –»
    Roy Marsh hatte sich zu Jury umgedreht und Ballinger das Wort abgeschnitten. Seine Stimme war sanft, aber von einer gefährlichen Sanftheit, wie der Klang von gedämpften Schritten. «Wir haben die Leiche heute morgen um vier Uhr dreißig in einem alten Boot gefunden, unter einer Persenning. Auf der Slipanlage bei Wapping Old Stairs. Wir wollten überprüfen, wem das Boot gehört. Jemand hatte die Tote darin abgeladen; die Flut hat sie zwischendurch überspült.» Er wandte das Gesicht wieder zur Windschutzscheibe.
    Eine lange Rede für Roy Marsh, der jetzt den Zündschlüssel im Schloß drehte. Ballinger sah ängstlich aus. Einen Superintendenten von der Kripo ließ man nicht einfach so abblitzen.
    Jury hatte sowieso gehen wollen. Schlimm genug, daß sich Roy Marsh nicht gern von Scotland Yard die Butter vom Brot nehmen ließ, schlimmer, daß er wahrscheinlich auch unter besseren Bedingungen nicht sehr kommunikativ war, und schlimmer noch, daß er privat drinzuhängen schien.
    Über den Lärm des Motors hinweg sagte Marsh: «Sie haben anfangs nach Ruby gefragt; ich dachte, Sie wären wegen Sadie Diver hier.»
    «Bin ich jetzt auch.»
    Jury knallte die Tür zu und sah dem Auto nach, das mit quietschenden Reifen in die West India Dock Road einbog und davonraste.
     
     
    «Miss Firth?»
    Sie blickte vom Dienstausweis zu Jurys Gesicht hoch und wieder zurück. «Es will kein Ende nehmen», sagte Ruby Firth. «Und wozu gehören Sie? Limehouse? Themse-Division? Londoner Hafenbehörde?»
    «Scotland Yard.» Er lächelte. «Die haben Ihnen wohl tüchtig zugesetzt?»
    Ein gelangweilter Blick – einer, den Jury ihr unter den gegebenen Umständen nicht abnahm –, und sie gab die Schwelle frei. Den Trenchcoat hatte sie schon abgelegt, darunter trug sie ein schlichtes, durchgeknöpftes Baumwollkleid, dessen Saum bis auf den Rand ihrer modischen Stiefel reichte. Zunächst hielt er es für formlos; dann fiel ihm der Schnitt ins Auge. Teuer. Sie war ein wenig zu mager, ein wenig zu groß, der Mund ein wenig zu breit, aber eine Frau, die man nicht vergaß. Ihr Haar war dunkelgolden, und ihre Augen von einem rauchigen Karneolbraun. Sie schienen ihn wie durch einen Nebelschleier anzusehen.
    Der Raum, in dem sie standen, war riesengroß, einer von diesen umfunktionierten Lofts, über die sich Krael ausgelassen hatte, der Fußboden blank gewachst und scheinbar endlos wie ein Schiffsdeck. Er endete jedoch vor einem Panoramafenster, das der Bewohnerin einen unbezahlbaren Blick auf die Themse gewährte. Mattes Licht fiel auf alten Lack, als sie zwei schwarze, nadeldünne Wandleuchten anknipste, um die sich flache, grüne Lichtbänder zogen wie Ringe um Planeten. Der Kamin wiederum war aus massivem, grüngesprenkeltem Marmor und sehr schlicht, der Sims ganz ohne Schnickschnack, sogar ohne die landläufige Vase mit Blumen. An Möbeln gab es nur ein Sofa aus Rosenholz, auf dem sie jetzt saß, und diesem gegenüber zwei moderne, italienisch aussehende Stühle, dazwischen ein kleiner See aus Rauchglas. Von irgendwoher kam noch mehr weiches Licht, dessen Ursprung Jury jedoch nicht ausmachen könnte, und verschmolz mit den Schatten. Indirekte Beleuchtung hinter dem Deckenfries, nahm er an. Sie knipste eine Lampe mit Seidenschirm neben dem Sofa an. Das verstärkte noch das marmorierende Spiel von Licht und Schatten auf den schneeweißen Wänden. Jury kam sich vor wie in einer unheimlichen Dali-Landschaft, deren Mittelpunkt sie war, der Inbegriff von Widerspruch und verzerrter Wirklichkeit.
    Desinteressiert wartete sie, daß er anfing, es hinter sich brachte, fortging. Das war das Bild, welches sie ihm vermitteln wollte.
    «Es geht um Simon Lean.»
    Er hatte sie aus dieser gelangweilten Pose aufschrecken wollen. Aber ihre immer noch verschleierten Augen ließen ihn keinen Augenblick los. Sie öffnete lediglich einen Nähkorb und fragte ihn, ob er Tee oder einen Drink haben wollte. Als er ablehnte, zog sie ein ungesäumtes Stück Moireseide aus dem Korb und fragte: «Was ist mit Simon?»
    «Er wurde ermordet», sagte Jury brüsk und wunderte sich, daß die Frau nicht mit der Wimper zuckte, sondern dasaß,

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