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Inspector Jury besucht alte Damen

Inspector Jury besucht alte Damen

Titel: Inspector Jury besucht alte Damen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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Umriß des Bootes; doch die Kreide war teilweise schon wieder fortgewaschen, und die Feuchtigkeit hatte das Tau schon etwas gelockert.
    Roy Marsh blickte die schmale Treppe zur Straße hinauf. «Bei Stockfinsternis und nach der Sperrstunde dürfte das ein verlassenes Fleckchen sein, was? Wenn sie dort oben langgegangen ist –» er deutete mit dem Kopf in Richtung Straße – «jeder beliebige hätte sie die Stufen hier runterzerren können.»
    «Glauben Sie wirklich, es war jemand, den sie nicht kannte?» Jury blickte über die Themse, er sah ein Schnellboot vorbeirasen und ein langsameres Boot dümpelte in seinem Kielwasser. Leute standen im Freien und genossen die milde Witterung nach dem Regen. Das Wasser war getüpfelt von kleinen Vergnügungsbooten. Wieder dachte er, wie es wohl einst gewesen sein mochte – die schwarzen Schiffsrümpfe, die rostroten Segel blockierten fast die Sicht auf Southwark. Jetzt zeichneten sich auf der anderen Seite des Flusses die Surrey Docks dunkel vor einem orangefarben gestreiften Himmel ab.
    «Warum sollte es kein Fremder gewesen sein? Das scheint doch offensichtlich.»
    Jury vernahm den angriffslustigen Ton, er spürte, wie die Augen des Sergeant ihn durchbohrten. Seine Antwort war undurchsichtig: «So wie man die Leiche liegengelassen hat – warum in einem vertäuten Boot? Warum hat man sie nicht einfach ins Wasser geschoben?»
    Marsh wollte gerade den Mund aufmachen – vermutlich um die Theorie, daß Sadie Diver von jemandem umgebracht worden war, der sie kannte, zu entkräften –, doch Jury fuhr fort: «Vielleicht hatte jemand sie hierherbestellt, eine halbe Stunde zu Fuß von Limehouse –»
    «Zwanzig Minuten. Sie glauben also, man wollte sie aus ihrem Viertel weglocken, weil sie dann nicht so leicht mit der Wohnung in Limehouse in Verbindung zu bringen sein würde?»
    Wiggins kam von seinem Standort oben auf den Stufen dazwischen. «Mit ihrem Ausweis in der Tasche?» Anscheinend hatte er zugehört, statt einfach nur die Stufen auf ungesunden Schmutz zu überprüfen. Und zu Jury sagte er: «Beides geht nun mal nicht, Sir.»
     
     
    Im sterilen Glanz des weißgekachelten Raumes zog der Wärter das Tuch von der Toten.
    Jury stand da und blickte so lange auf das stille, statuenhafte Gesicht hinunter, daß Wiggins schon die Stirn runzelte und sagte: «Ist was, Sir?»
    Jury sah Wiggins an, dann den Wärter, als wollte er sich beide Gesichter einprägen. Ihm war zumute wie damals als Junge, wenn das Karussell sich schneller und schneller drehte und Formen und Gesichter zusammenflossen und man nur noch mit Mühe eines davon ausmachen konnte. Am Ende war dann der ganze Kreis aus Gesichtern wie ein einziges.
    Eine gute Minute herrschte Totenstille, der Wärter wußte nicht so recht, was er tun sollte, und Wiggins nahm das kleine Foto, das Jury ihm reichte und musterte es einen Augenblick. «Simon Lean, nicht wahr?»
    Jury nickte.
    Stirnrunzelnd betrachtete Wiggins es aufs neue, dann wieder die Tote auf dem Tisch des Leichenschauhauses. «Und die?» Wieder runzelte er die Stirn. «Sadie Diver?»
    «Hannah Lean. Seine Frau. Doch die scheint daheim in Northants zu sein, Wiggins, quicklebendig.» Jury bedeutete dem Wärter, daß er die Tote wieder zudecken könne.
    «Da komme ich nicht mit, Sir.»
    «Ich auch nicht.» Wieder blickte er den Schnappschuß an, den er auf Watermeadows mitgenommen hatte. «Und da frage ich mich noch, warum mir Tommy Diver so bekannt vorkommt.»
     
     
    Er brauchte einen Ort zum Nachdenken.
    Warum eigentlich keine Kirche, dachte Jury, als er von der Commercial Road in die Three Colt Street abbog, wo die «Fünf Glocken» so fest verschlossen waren, so blind aussahen, wie nur Pubs in den wenigen Stunden zwischen nachmittäglicher und abendlicher Öffnungszeit aussehen können. Er parkte das Auto neben St. Anne und stieg aus.
    Straße und Friedhof lagen verlassen da. Er umrundete die Westseite, stieg mehrere Fluchten einer fächerförmigen Treppe empor, durchquerte die Vorhalle und trat durch das Portal ein. Das Kirchenschiff war ein Rechteck, die angrenzenden Seitenkapellen wiederum Rechtecke innerhalb des größeren. Die ionischen Säulen und die Emporen um das Kirchenschiff herum beeindruckten durch ihre Schlichtheit. Er dachte daran, daß die Bauten dieses Architekten bei seinen Zeitgenossen als «falsch» gegolten hatten. Schlichtheit, wo man Überladenheit erwartete. Jury kannte sich mit Kirchenarchitektur nicht aus. Er wußte nur, daß er ein wenig

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