Inspector Jury besucht alte Damen
eine indisch aussehende Messingdose und einen Beduinenkrieger mit weißem Burnus auf einem sich bäumenden Pferd. Er schwenkte das Gewehr mit dem aufgesetzten Bajonett und war eine vollendete Miniatur aus Zinn. Jury öffnete die Glastür, griff hinein und zog die Hand zurück. In der Küche hatte er verschließbare Plastiktüten gesehen. Er holte sie und nahm das Pferd heraus, indem er sein Messer zwischen dessen Beine schob. Dann ließ er es in eine Plastiktüte fallen, drückte sie oben zusammen und steckte sie in die Tasche. Er zog noch eine Tüte aus der Packung und tat den Kristallvogel hinein.
Jury rief die Hauptwache in Wapping an und ließ den Mann vom Erkennungsdienst, der die Fingerabdrücke bearbeitete, an den Apparat holen. Ja, sie hatten Fingerabdrücke des Opfers auf dem Geschirr gefunden, ein paar auch auf dem Holz. Einige Fingerabdrücke mußte man ausscheiden – «Wessen?»
«Vom Botenjungen, von einem Nachbarn aus der Straße, vom Bruder.» Andere hatten sie nicht identifizieren können, eine ganze Menge sogar. Schwache, partielle – «Haben Sie auch das Zeug aus der Vitrine eingestaubt? Ein arabischer Krieger hoch zu Roß und ein paar Exemplare von Country Life ?»
«Araber, Araber», murmelte der Mann vom Erkennungsdienst, dann sagte er: «Zwei partielle, nicht vom Opfer. Illustrierte … mehrere. Nicht vom Opfer.»
Schweigen. Jury sagte: «Wie viele vom Opfer haben Sie denn überhaupt gefunden?»
«Ist noch nicht genau raus. Aber soviel ich weiß, verflucht wenig. Wenn Sie mich fragen, in der Wohnung hat anscheinend niemand gewohnt.»
«Der Gedanke ist mir auch schon gekommen. Haben Sie auch die Fläschchen im Arzneischrank untersucht? Und dann war da noch ein kleiner Stapel Teller mit Goldrand im Küchenschrank. Reichten die partiellen für eine Rekonstruktion des ganzen Abdrucks?»
«Jein.»
«Das heißt?» Jury konnte sich unschwer vorstellen, wie der Mann grinste und seinen kleinen Witz genoß.
«Gar nichts. Ist es nicht immer jein?»
Jury legte auf, aber vorher sagte er dem Mann vom Erkennungsdienst noch, daß der Erkennungsdienst sich die Wohnung erneut vornehmen müsse.
Er setzte sich einen Augenblick auf die Bettkante, öffnete sein Notizbuch und schloß es wieder. Sadie Diver erschien in seinem Blickfeld wie eine Gestalt am Ende eines langen Tunnels, wie jemand, der jählings aus dem Nichts auftaucht und wieder im Nichts verschwindet. Die Vorstellung ist absurd, versuchte er sich zuzureden. Sie hatte doch eine Geschichte: einen Bruder, Tante und Onkel, eine Wohnung, einen Job. Er sah noch einmal in seinem Notizbuch nach. Ein Salon namens «Strähnchen» in der Tottenham Court Road.
Er zog das Päckchen aus der Tasche, hielt es gegen das Licht und betrachtete die Figur im Burnus, das sich aufbäumende Pferd. Hannah Leans Lieblingsfigur.
So etwas hatte jedenfalls Lady Summerston gesagt.
23
«U ND ICH DACHTE , Sie arbeiten immer paarweise», sagte Ruby Firth, als sie ihm zum zweiten Mal an diesem Tag die Tür aufmachte. «Die Polizei verhält sich polizeiwidrig», setzte sie trocken hinzu und nahm wieder die gleiche Pose auf dem Sofa ein, wo sie im matten Licht der Tischlampe gearbeitet haben mußte. Der Loft war in der Abenddämmerung noch verschatteter. Die grünumringten Wandleuchter spendeten ihr unirdisches Licht. Neben dem Korb mit Materialien, Stoffproben, Bändern und Borten lag ihre überdimensionale Hornbrille.
Zog man das Samtkleid und die sieben Zentimeter hohen Hacken in Betracht, konnte man sich schwerlich vorstellen, daß die verstädterte Laura Ashley wirklich die Nadel betätigt haben sollte, als er geklopft hatte. «Dann sind Sie also an die Polizei gewöhnt?»
Ruby besserte gerade einen kleinen seidenen Lampenschirm aus. Sie verzog keine Miene, als sie ihn über den Rand ihrer Hornbrille anblickte. Im Augenblick wirkte sie wie eine wißbegierige Lehrerin. «Mir ist, als könnte die Frage doppeldeutig gemeint sein.» Sie griff zu einem Stück aprikosenfarbener Borte. «Die Polizei beehrt mich zum Frühstück, zum Lunch und jetzt anscheinend auch noch zum Abendessen. Tut mir leid, aber ich muß in eine Galerie, zu einer Vernissage. Champagner und Häppchen. Wie gut die Bilder sind, weiß ich nicht, aber die Ausstattung ist gut. Die ist nämlich von mir.»
«Es tut mir leid. Es muß sein. Wo ist Tommy?»
«In Pennyfields, beim Chinesen. Ich dachte mir, er muß mal raus hier, das wird ihm guttun; ehrlich gesagt, wenn ich die Mundharmonika noch länger
Weitere Kostenlose Bücher