Inspector Jury besucht alte Damen
Ruby Firth an Trauer vermissen ließ, bei Tommy Diver war es vorhanden.
Ruby bat ihn hereinzukommen. Sie machte ihn mit Jury bekannt, nahm ihren Nähkorb und verließ das Zimmer. Tommys Gesicht, das unentschlossen und gealtert wirkte, wie das eines alten, verunsicherten Menschen, der nicht weiß, ob er willkommen ist, wurde für einen Augenblick lebendig; es war trotz allem ein hübsches Gesicht. Und es spiegelte selbst jetzt noch jene kindliche Erregung, die Jury früher schon an Kindern bemerkt hatte, denen Scotland Yard Beachtung schenkte. Vielleicht konnten Mama und Papa keine Zeit für sie erübrigen, aber die Leute von Scotland Yard, die lehnten sich tatsächlich zurück und unterhielten sich mit ihnen.
Als Jury aufstand und ihm die Hand schüttelte, suchte Tommy offenbar nach einer weltläufigeren Reaktion als dem «Hallo», welches er schließlich zuwege brachte. Er geriet ins Stolpern, als er sich rückwärts auf einen der stromlinienförmigen Stühle zubewegte.
«Heute morgen, das muß schlimm gewesen sein», sagte Jury.
Die Antwort darauf war undurchsichtig und abweisend. «Na hören Sie, ich sollte doch wohl meine eigene Schwester kennen. Wer vergißt schon seine Schwester?» Er zog die Mundharmonika aus der Tasche und begann an ihr herumzufummeln. Anscheinend war ihm seine Antwort auf eine nicht gestellte Frage peinlich. «Die Polizei hat gesagt, daß Tante Glad und Onkel John aus Gravesend kommen. Jetzt kriege ich aber mein Fett ab.»
«Tanten sind nicht gut im Zuhören. Ich hatte auch eine.» Es stimmte; sie war auch nicht von der Sorte gewesen, zu der man mit seinen Sorgen kommen konnte, und das meinte Tommy Diver. «Ich kann ja wiederkommen; wir können uns ein andermal unterhalten. Spielst du?» Jury deutete mit dem Kopf auf die Mundharmonika.
Tommys Augen begannen zu strahlen. Jetzt sahen sie nicht mehr so stumpf aus, sondern hatten die Patina von altem Messing. «Ruby sagt, zuviel. Soll ich Ihnen was vorspielen?»
Wieder verspürte Jury dieses eigenartige Gefühl von dejà vu. Diesen Jungen hatte er schon einmal gesehen. «Klar doch. So etwas habe ich seit Jahr und Tag nicht mehr gehört.»
Tommy blies einen Durchzieher; das Instrument war alt und nur noch wenig nuanciert; dann spielte er «Waltzing Matilda» als Klagelied. Es war wunderschön.
Er redete nicht nur über seine Schwester, er redete wie ein Buch, hatte nur auf jemanden gewartet, mit dem er reden konnte, seit Marsh und Ballinger ihn diesen Morgen abgeholt hatten. Ruby? Ach, Ruby war schon in Ordnung, aber das war schließlich etwas anderes, oder?
Insgeheim mußte Jury lächeln, denn er war sich nicht sicher, wieso gerade er Tommys Ansprüchen gerecht wurde, die Ruby nicht erfüllte. Aber er war bereit, sich für mehr als eine halbe Stunde anzuhören, was Tommy von Sadie erzählte. Sie hätten sehr aneinander gehangen, sagte der Junge. Das war es, was Jury stutzig machte. «Du hast sie doch fünf Jahre lang nicht gesehen, Tommy. Wieso nicht?»
Tommy schwieg ein Weilchen und beobachtete die bemalten Kohlen im Kamin und die Flammen, die an den falschen Holzscheiten hochzüngelten. Er seufzte. «Wegen Onkel John. Der hat Sadie nie gemocht, hielt sie für schlecht, und als sie einfach ihre Koffer packte und ging, tat er, als hätte sie sich dem Teufel verschrieben oder so. Ab nach London ist sie. Die waren doch schon sauer, wenn sie mich anrief.» Er deutete mit dem Kopf zu dem Zigarettenpäckchen und sagte: «Was dagegen?»
Jury nahm selbst eine und legte die Packung neben Tommys Stuhl auf den Tisch. «Hast du niemals versucht, mit ihm über sie zu sprechen?»
«Nein. War bei ihm sowieso nicht drin.» Tommy blickte Jury düster an. «Wenn man elf ist, stellt man nicht sehr viele Fragen. Nicht, wenn man sonst nirgendwohin kann.»
«Kenn ich», sagte Jury.
Tommy Diver sah ihn mit einem zaghaften Lächeln an. «Klingt ganz danach, als ob Sie auch einen Onkel hatten.»
«Aber keine Schwester …» Er hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, denn jetzt war das Lächeln verschwunden. Jury fragte rasch: «Wieso haben sie dich dann nach London gelassen?»
«Haben sie ja nicht. Ich hab ihnen erzählt, daß ich für ein paar Nächte bei einem Freund übernachte, bei Sid. Er arbeitet auf einem Schlepper. Sid ist echt in Ordnung. Sadie hat mir Geld geschickt. Hat gesagt, ich sollte mir einen schönen Anzug für die Sonntagsmesse oder sonstwas kaufen. Na ja, für Sonntagskleider habe ich nicht viel Verwendung; da habe ich
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