Inspector Jury bricht das Eis
wunderte sich Melrose. «Ich dachte, ich hätte mein Buch hier liegengelassen. Ich warte eigentlich nur auf Superintendent Jury.» Er nahm einen Billardstock aus der Halterung und ging um den Tisch, um einen Blick in Agathas Karten zu werfen. Er hatte schon häufiger mit ihr gespielt.
Sie preßte die Karten wie einen Fächer gegen ihren Busen, und ihr Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, daß sie es vorgezogen hätte, wenn er seine Wartezeit anderswo verbracht hätte. «Es geht mich natürlich nichts an», sagte sie, legte eine Trumpfkarte auf Vivians König und kassierte ihren Stich, «aber was hat Jury eigentlich hier zu suchen? Was kümmert Scotland Yard der Tod von Beatrice Sleight?» Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse, als Elizabeth St. Leger Karo ausspielte. «Schließlich hat ihn die Polizei von Northumbria nicht um Hilfe gebeten, oder?» Vivian legte eine Kreuz-Zwei auf den Tisch.
«Was soll das heißen, ‹Affen›?» fragte Melrose.
«Wovon redest du?» Agatha bekam plötzlich einen Hustenanfall und zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel; Melrose ließ den Blick an seinem Billardstock entlangwandern und bemerkte, daß ihr ein Herzkönig in den Schoß gefallen war. Agatha hüstelte erneut, schob das Taschentuch wieder zurück und sagte: «Wir sprachen nur darüber, was sich unser Adel alles einfallen lassen muß, um seinen Besitz zusammenzuhalten.» Sie knallte den Herzkönig auf die Dame des nicht vorhandenen vierten Spielers. «Natürlich hat man mit einem kleineren Besitz wie Ardry End nicht solche Probleme wie auf einem so riesigen Anwesen wie Meares.»
Melrose hatte sie nie zuvor von Ardry End als einem «kleineren Besitz» sprechen hören.
«Also, ich weiß nicht», sagte Melrose, der fasziniert beobachtete, was seine Tante beim Mischen alles mit den Karten anstellte. Mindestens zwei waren schon unauffällig in ihrem Ärmel verschwunden. «Ardry End ist zwar nicht so groß wie Spinney Abbey, aber …»
«Es ist gar kein Vergleich!» Sie fächerte ihre Karten auf, betrachtete sie und spielte einen Karo-Buben aus. Dann schien sie sich wieder daran zu erinnern, daß es sowohl in ihrem eigenen Interesse wie auch in dem ihres Neffen lag, den Stammsitz der Familie ins beste Licht zu rücken. «Von den kleineren ist Ardry End immer noch einer der hübschesten», meinte sie. «Außerdem brauchen wir keine Eintrittskarten an Busladungen von Touristen zu verkaufen, um ihn instand halten zu können, oder uns mit Kindern abzuplagen, die mit ihren schmutzigen Fingern alles anfassen und den Rasen und die Beete zertrampeln.»
Melrose unterdrückte die Bemerkung, daß sie gar nichts instand zu halten brauchte, da ihr ja nichts gehörte. Ihn interessierte viel mehr, was mit dem As in ihrem Ärmel geschehen würde.
Elizabeth St. Leger war unbeeindruckt. Sie legte eine Karte auf den Tisch und sagte: «Da haben Sie Glück. Die meisten von uns» – Melrose lächelte; er wußte, daß dieses «uns» Agatha auf ewig ausschloß – «müssen sich tatsächlich einiges einfallen lassen, um die Kosten zu decken. Aber mir gefällt das sogar. Es freut mich, wenn die Leute meine Gärten bewundern. Ich habe auch nichts gegen Gartenarbeit … ist das schon wieder ein As, Agatha?»
Agatha ignorierte diese Frage geflissentlich. «Oh, wir haben auch sehr hübsche Gärten. Aber wir erfreuen uns selbst daran. Ein Jammer, daß es mit dem englischen Adel so weit gekommen ist. Denken Sie bloß an Woburn Abbey. Überall Imbißbuden, Antiquitätenstände und was weiß ich nicht alles. Und dann Bath!» Lady St. Leger spielte ihren letzten Trumpf aus – eine Kreuz-Fünf. «Dort sind die Affen», erklärte sie Melrose, «in Longleat. Und Löwen und so weiter. Das Ganze ist ein Zoo .» Jäh überkam sie ein weiterer Hustenanfall, und dann stach sie die Fünf mit einem Buben. «Aber ich habe natürlich Verständnis für solche Maßnahmen», fügte sie hinzu.
Das war das erste Mal, dachte Melrose.
«Es gibt eben Zeiten, in denen man vor nichts zurückschrecken darf, um die Familientradition aufrechtzuerhalten. Melrose wird mir da sicher beipflichten.»
«Gewiß», sagte Melrose und sah sie auch noch den letzten Stich einheimsen, bevor sie sich der Kuchenplatte zuwandte.
Elizabeth St. Leger hatte entweder die Lust am Spiel selbst oder an Agathas speziellen Varianten verloren; sie hatte sich am Kaminfeuer im Salon niedergelassen und widmete sich ihrer Stickerei.
Melrose, der auf Jurys Anruf wartete, war baß erstaunt,
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