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Inspector Jury bricht das Eis

Inspector Jury bricht das Eis

Titel: Inspector Jury bricht das Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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wohl etwas Geduld aufbringen können. Zwei Löwen in Hermelin und ein Einhorn in Waffen, das zu der Familie der Ungaluten gehört.»
    Elizabeth St. Leger biß sich auf die Lippen.
    «Ungulaten, Agatha.»
     
    Er ging ins Musikzimmer, um Tommy zu sagen er solle aufhören, Chopin zu vergewaltigen, sich etwas überziehen und sich mit den wesentlichen Dingen des Lebens zu befassen.
    Tommy zerquetschte sich beinahe die linke Hand, so schnell ließ er den Klavierdeckel heruntersausen. «‹Jerusalem Inn›? Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst? Tante Betsy –»
    «Heute nachmittag verlegen wir das ‹Jerusalem Inn› in die Kathedrale von Durham.»

23
    Ein Christ im Circus Maximus hätte den ausgehungerten Löwen nicht mutiger ins Gesicht sehen können als Detective Sergeant Wiggins dem Bahnhof von Newcastle. Er war nicht schlimmer und nicht besser als Victoria Station, King’s Cross oder St. Pancras, nur kleiner. Architektonisch nicht uninteressant, hatte er doch nicht das Flair (ein Wort, das Sergeant Wiggins wohl kaum gebraucht hätte) von St. Pancras, dem seltsamsten aller Bahnhöfe.
    Der Bahnhof von Newcastle bot das übliche Bild von Gleisen, Pennern, Dreck und Würstchenbuden. Wiggins hatte Bahnhöfe schon immer als gigantische Müllcontainer betrachtet, als etwas, das man nach Möglichkeit mied. Das galt ganz besonders für die Londoner U-Bahn, deren Benutzung jedoch leider unumgänglich war, da sie eindeutig die schnellste Verbindung zwischen seiner Wohnung in Lambeth und dem New Scotland Yard darstellte. Jury erinnerte sich, wie erleichtert Wiggins gewesen war, als er etwa ein Jahr zuvor die Entdeckung gemacht hatte, daß ein Spezialwagen die Tunnels regelmäßig reinigte. Wiggins mußte die Bakerloo-Line nehmen und behauptete steif und fest, die Bakerloo und die Northern seien mit Abstand die verdrecktesten. Jurys Schicksal war die Northern, woran ihn sein Sergeant nicht oft genug erinnern konnte.
    Da Wiggins ohne seine nachmittägliche Tasse Tee nicht zu gebrauchen war, ließ er sich von Jury dazu überreden, sich an einen der verklebten, papierübersäten Tische des Bahnhofscafes zu stellen. Natürlich nicht, ohne ihn vorher mit Papierservietten zu reinigen.
    Gewisse Rituale waren einfach unumgänglich, um eine gewisse anfängliche Widerspenstigkeit in ihm zu besänftigen, bevor er dazu aufgefordert werden konnte, sich an die Arbeit zu machen. Und Jury drängte ihn nie, denn das verärgerte seinen Sergeanten nur, der, alles in allem, ein unerschöpflicher Informationsquell war und an Sorgfalt und Gründlichkeit selbst Boswell in den Schatten stellte. Er notierte sich gewissenhaft jedes – auch das nutzloseste – Detail, das selbst das stärkste Teleskop nicht am nächtlichen Sternenhimmel hätte herausfiltern können. Doch gewisse Tatsachen waren einfach von unschätzbarem Wert, und Jury hatte gelernt, sie aus dem Schwall von Informationen zu isolieren.
    Im Augenblick lag Wiggins’ aufgeschlagenes Notizbuch neben einem unappetitlich aussehenden Stück Apfelstrudel mit durchweichtem Boden. «Annie Brown», las er. «Geboren 1925 in Brixton – natürlich lange vor den Unruhen, aber auch damals schon eine ziemlich heruntergekommene Gegend.» Es folgte eine detaillierte Beschreibung Brixtons sowie der Brownschen Wohnung. «Keine nennenswerte Ausbildung – sie hat zwar einen Abschluß, machte aber nicht weiter.» Es schloß sich eine vorbildliche Aufzählung der schulischen Leistungen an, die Annie erbracht hatte. Zum Glück wurde der Rest dann etwas schneller abgehandelt. «Sie bekam eine Assistentenstelle an einer Realschule; danach zog sie nach Dartmouth und unterrichtete die ersten Klassen einer Mädchenschule namens Beedle. Schätze, daß Ellbogeneinsatz einen dort weiterbringt als Geistesblitze. Schließlich landete sie dann an der Laburnum School.» Wiggins wischte sich den Mund mit einer Papierserviette ab. «Die Schulleiterin dort meinte, sie sei in Ordnung gewesen, mehr aber auch nicht. Zumindest hatte ich diesen Eindruck. Eines Tages brach sie dann ihre Zelte ab und kündigte mit der Begründung, sie habe was Besseres gefunden.»
    «Wir sollten hier auch unsere Zelte abbrechen und sie den Rest der Geschichte selbst erzählen lassen. Sie haben gute Arbeit geleistet, Wiggins – so viele Informationen auszugraben, während Ihnen der kalte Seewind um die Ohren pfiff.» Jury warf einen bedeutungsschwangeren Blick auf den unappetitlichen Apfelkuchen. «Hoffentlich überleben Sie dieses Zeug hier so

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