Inspector Jury bricht das Eis
als Agatha aus einem Körbchen, das sie wahrscheinlich bei ihrer Gastgeberin abgestaubt hatte, einen Stickrahmen hervorholte.
«Du, Agatha? Ich habe dich noch nie sticken gesehen.»
«Dabei ist das eines meiner liebsten Hobbies. Du hast dich ja auch nie danach erkundigt», sagte sie mit der ihr eigenen Logik und stieß einen tiefen Seufzer aus. «Es ist ein Weihnachtsgeschenk für dich, wenn du’s partout wissen willst.»
Das war erst recht erstaunlich. Soweit er sich zurückerinnern konnte, hatte ihm seine Tante noch nie etwas geschenkt. Statt mit Geschenken hatte sie ihn immer nur mit Entschuldigungen überhäuft. Er sah ihr über die Schulter und betrachtete die wenigen Stiche, die man bestenfalls als unbeholfen bezeichnen konnte. «Sieht aus wie eine Maus.»
Sie stieß ihre Nadel energisch durch den cremefarbenen Untergrund. «Unsinn. Es ist ein Einhorn.»
«Ich finde, es sieht aus wie ein Mauseohr.»
«Es ist das Horn eines Einhorns.»
«Aber warum, um Gottes willen, stickst du Einhörner?»
«Wenn du’s unbedingt wissen und dir die Überraschung verderben willst …»
Nichts würde sie davon abhalten, ihm diese Überraschung nunmehr ihrerseits zu verderben, denn sie war fest entschlossen – davon war er überzeugt –, Lady St. Leger mit ihrem ehrgeizigen Projekt zu beeindrucken. Sie wollte schon loslegen, doch Melrose kam ihr zuvor.
«Nein, nein, Agatha, mir wäre lieber, es bliebe eine Überraschung», und dann lenkte er das Gespräch auf den nächstbesten Gegenstand, der ihm ins Auge fiel: eine Schale mit Christrosen. «Sehr hübsch, diese Blumen», sagte er und wandte sich an Elizabeth St. Leger, die Gärtnerin unter ihnen. «Es ist schön, zu Weihnachten weiße Blumen zu haben.» Er wußte nicht genau, warum das so sein sollte, aber es lenkte von Agathas Stickerei ab.
«Ja, nicht wahr», sagte Lady St. Leger. Sie betrachtete die Schale mit den Christrosen. « Helleborus niger , schwarze Nieswurz. Komischer Name. Wahrscheinlich wird sie wegen ihrer Wurzel so genannt. Die ist schwarz und hochgiftig.» Sie schnitt mit ihrer Schere einen dunkelgrünen Faden ab. «Nett, daß Susan all diese Blumen mitgebracht hat. Wenn ich ganz ehrlich bin, hätte ich ihr das gar nicht zugetraut.»
Nett von Susan, in der Tat. Melrose starrte gedankenverloren die Blumen an, bis Elizabeth St. Leger die Hände vor die Ohren schlug. «Ach, du liebe Güte», stöhnte sie. «Er hat wieder angefangen.» Sie warf Melrose einen hilfesuchenden Blick zu. «Was meinen Sie, Mr. Plant, könnten Sie ihn nicht eine Weile vom Üben abhalten? Alle wären Ihnen unendlich dankbar, glauben Sie mir, mich eingeschlossen.»
Melrose überlegte kurz und sagte dann zuvorkommend: «Jetzt, wo die Straßen wieder frei sind, wäre es mir ein Vergnügen, wenn er mich nach Durham begleiten würde.»
Lady St. Leger fädelte einen neuen Faden ein. «Wohin hat Superintendent Jury ihn heute morgen mitgenommen?» fragte sie. «Aus Tom konnte ich nur herauskriegen, daß es eine reine Routineangelegenheit gewesen sei. Dürfen wir überhaupt das Haus verlassen? Die Polizei schwirrt doch überall herum …»
Was maßlos übertrieben war. Draußen suchten lediglich zwei Polizeibeamte den Schnee um die Kapelle ab. Er war froh, daß sie ihm gleich noch eine zweite Frage gestellt hatte und er die erste somit nicht zu beantworten brauchte. «Wir stehen nicht unter Hausarrest, Lady St. Leger. Ich bin überzeugt, daß wir uns frei bewegen können, solange wir das Land nicht verlassen.» Er stellte sich wieder hinter Agatha, um zu sehen, welche Fortschritte das undefinierbare Einhorn machte.
«Durham?» warf Agatha ein. «Was willst du denn da?»
Melrose kannte seine Tante zur Genüge und wußte, daß Agatha es vorziehen würde, bei ihrer lieben Freundin am Kamin zu sitzen, statt eine großartige Kathedrale zu besichtigen, und antwortete bereitwillig: «Es ist ein hübsches kleines Städtchen. Ich möchte die Kathedrale besichtigen.»
«Na schön», sagte sie, als erteilte sie ihm gnädig ihre Erlaubnis. «Ich bleibe hier und mache damit weiter. Das ist eine zeitraubende Arbeit.» Sie wartete zweifellos, daß er sich für dieses Opfer – das ihr größere Ausgaben ersparte – bedankte. Doch er schwieg, und sie fuhr fort: «Wenn du es partout wissen willst: Ich sticke das Wappen der Earls of Caverness.»
Er zwinkerte. «Weihnachten ist bereits morgen, liebste Tante. Meinst du, du schaffst es bis dahin?»
«Bei solch kompliziertem Unternehmen wirst du
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