Inspector Jury bricht das Eis
von unbestimmbarem Geschlecht. Im Moment trug sie ein Kleid, das vermutlich einst dem Mädchen gehört hatte. Die Taille saß auf den Hüften, und der Saum hing ihr bis über die Zehen.
Als die Kleine sah, daß Jury ihre Bemerkung nicht verstand, deutete sie mit dem Kopf auf die Krippe. «Sie war schmutzig.»
«Oh», sagte Jury. Er blickte auf das Kleid. «Ist es denn ein Mädchen?»
Sie betrachtete stirnrunzelnd das verwaiste Stroh, als überdenke sie ihren Irrtum. «Jetzt gerade ist sie eins.» Sie glättete das alte Kleid, sichtlich daran gewöhnt, daß die Puppe ein Mädchen war, und unzufrieden darüber, daß sie zur Weihnachtszeit eine Doppelrolle spielen mußte.
Durch eine Hintertür erschien eine hübsche junge Frau mit einem Tablett voll Gläser. Als sie das Kind sah, schüttelte sie den Kopf, kam zur Krippe und flüsterte: «Chrissie! Leg das Jesuskind wieder zurück, Kleines! Wie oft muß ich dir das noch sagen?»
Ihr Haar hatte die gleiche Farbe wie das des Kindes, doch ohne dessen Glanz; ihr Gesicht ließ ahnen, wie das kleine Mädchen später einmal aussehen würde.
«Ich mußte sie doch baden!» sagte Chrissie mit quengelnder Stimme.
«Tu sie wieder ins Stroh!» Die Frau warf Jury einen Blick zu, als gebe es zwischen Erwachsenen ein natürliches Bündnis, schüttelte den Kopf und seufzte: «Diese Gören!» Dann ging sie hinter die Bar und begann Gläser ins Regal zu stellen.
Traurig knöpfte Chrissie das Puppenkleid auf, wobei sie Jury den Rücken zuwandte, um das Schamgefühl der Puppe nicht zu verletzen. Dann stieg sie über das Seil, das zum Schutz der Figurengruppe gespannt worden war, legte das nackte Puppenkind ins Stroh und kam wieder zurück. Das nun komplette Arrangement fand jedoch nur ihre stirnrunzelnde Mißbilligung. «Es sieht blöd aus.» Sie kreuzte ihre rundlichen Ärmchen auf Altfrauenart vor der Brust.
«Na ja …» meinte Jury.
Da er ihr nicht auf der Stelle recht gab, fügte sie in noch entschiedenerem Ton hinzu: «Sie sieht häßlich aus ohne Kleider.»
Jury trank einen Schluck Bier. «Sie sieht nicht aus wie das Jesuskind, das find ich auch. Was ist denn mit dem richtigen passiert?»
«Es ist bei ’ner Prügelei kaputtgegangen. Hier gibt’s ständig Prügeleien. Futsch!» Sie gab ein schmatzendes Geräusch von sich, dessen Klang ihr offenbar Spaß machte. «Deshalb haben sie gesagt, ich soll Alice hinlegen. Sie ist ein Mädchen.» Sie schielte zu Jury hoch, um zu sehen, ob er ihr widersprechen würde.
«Das ist wirklich Pech. Aber nach Weihnachten kriegst du sie ja wieder, oder?» Sie nickte. «Weißt du, Jesus würde nämlich kein Kleid tragen.»
Sie kratzte sich am Ellbogen. «Er hat Tücher getragen. Ich hab Bilder gesehn.»
«Aber erst, als er älter war. Was du brauchst, sind Windeln.»
«Was?» Das war der größte Quatsch, den sie je gehört hatte.
«Windeln. Ein paar alte Lumpen würden’s auch tun. Wenn deine Mama dir ein Stück Stoff gäbe, das sie nicht mehr braucht, könntest du’s zerreißen und Alice damit wickeln.» Er wies mit seinem Glas auf die armseligen und ramponierten Darsteller in dem Stück hinter dem Absperrseil. «Sie waren arm. Sie hatten nichts Besseres zum Anziehen für ihn.»
Chrissie schaute hinab auf ihr eigenes Kleid, ein verschossenes, geflicktes Stück, wie das Puppenkleid. Es stammte offensichtlich aus zweiter Hand und war ihr viel zu groß. «Dann sind sie hier ja richtig.» Sie drehte sich um und rannte zur Tür hinaus, wahrscheinlich, um nach Windeln zu suchen.
Jury spendierte dem Wirt – Hornsby hieß er – erst mal einen Drink, bevor er ihm seinen Ausweis und das Foto von Helen Minton zeigte.
Nachdem der Drink Hornsby die Zunge gelockert hatte, stellte sich heraus, daß der Wirt nicht viel zu sagen wußte. Er kratzte sich im Nacken und schüttelte den Kopf. «Die hab ich hier noch nie gesehn, Mann – äh, Superintendent.» Hornsby zeigte seiner Frau das Bild. Mrs. Hornsby strich ihr langes Haar hinters Ohr, als könnte sie so besser sehen, und beäugte das Gesicht auf dem Schnappschuß, das halb im Schatten eines Baumes verborgen war. Mrs. Hornsby war offensichtlich keine Frau, die zu übereilten Antworten neigte, was entweder bedeuten mochte, daß sie ihre Gedanken nur unter langwierigen Mühen faßte, oder aber, daß sie eine sehr gewissenhafte Denkerin war.
Sie ließ ihren Blick durch das Lokal über jeden einzelnen ihrer Gäste schweifen, als könnte sie auf ihren Gesichtern den Schlüssel zu diesem
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