Inspector Jury bricht das Eis
Straßenschilder kaum erkennen. Jury war von der A1 auf eine Ausfallstraße abgebogen und, wie ihm schien, schon meilenweit gefahren; trotzdem wollte die öde Moorlandschaft zu seiner Linken kein Ende nehmen. Vielleicht hatte er etwas falsch verstanden, als man ihm an der Tankstelle den Weg beschrieben hatte. Der Tankwart hatte es sich außerdem nicht nehmen lassen, dem Fremden eine Neuauflage alter Schauergeschichten von den Unglücklichen aufzutischen, die sich ins Moor gewagt hatten und seither, wie er glaubhaft zu berichten wußte, nie wieder gesehen worden waren. Jury war es gelungen, sich in aller Höflichkeit loszueisen, aber allmählich kamen ihm die Geschichten gar nicht mehr so unwahrscheinlich vor.
Die Straße war schmal, stellenweise vereist und erst vor kurzem geräumt worden: kleine Schneehügel säumten sie zu beiden Seiten. Ein Stück voraus bewegte sich etwas: ein Mann, der ohne Hut und Mantel durch die Kälte stapfte. Ein abgehärtetes Volk hier oben, dachte Jury, während er anhielt und das Fenster herunterkurbelte. «Kennen Sie eine Kneipe namens ‹Jerusalem Inn›? Sie soll hier irgendwo sein.»
Das Gesicht des kleinen Mannes verzog sich zu einem Lächeln. «Ja schon … wenn man zur Kirche fährt, liegt’s auf halbem Weg.»
«Gehen Sie auch in die Richtung?»
«Ja, schon …»
Es wird wohl einfacher sein, ihn gleich mitzunehmen, als lange mit ihm zu reden, dachte Jury und öffnete die Beifahrertür. «Steigen Sie ein.»
Das Männlein sprang fix ins Auto und lächelte Jury zahnlos an. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sein Gebiß einzusetzen, und seine wasserblauen Augen waren trübe, als hätte der Frost sie mit Rauhreif bedeckt. Viel wahrscheinlicher allerdings war, daß er zu Hause schon ein paar Gläschen getrunken hatte, um sich für den Weg zum Pub zu stärken. Seine Hände umklammerten etwas, das wie eine mutierte Riesenzwiebel aus einem billigen Science-fiction-Streifen aussah. Er hielt sie auf seine Knie gestützt wie einen Koffer, während sie nordwärts fuhren.
«Was ist das?» fragte Jury.
Der Kleine blinzelte ihm zu. «Ein Lauch, mein Freund. Dies Jahr hab ich ihn mächtig groß gekriegt, und den Preis hab ich auch gewonnen. Letztes Jahr hätt ich schon gewonnen, wenn ich nich wieder so ’n Pech gehabt hätt. Ich war nich ganz da und hab’s nich geschafft. Sind Sie aus dem Süden?»
Jury lächelte. Das war eine rein rhetorische Frage. Und sie war nicht als Kompliment gemeint.
Das «Jerusalem Inn» war ein schmuckloses, grau verputztes Gebäude mit einem ebenso schmucklosen Schild, das wie zufällig an der Seitenfront hing und dessen breite schwarze Lettern fahl von einer schwachen Lampe beleuchtet wurden.
Jury war es ein Rätsel, woher bei diesem Wetter die Kundschaft kam, doch hatte sich etwa ein Dutzend Gäste eingefunden. Und alle sahen so aus, als gehörten sie zum Inventar des Pubs wie das Schild draußen an der Mauer.
Dickie, Jurys neuer Bekannter, legte seinen Lauch und sein Geld auf die Bar und fragte Jury, was er trinken wolle. Jury bestellte ein Bier, als der Kneipenwirt sich ihnen zuwandte. Er hatte das rosige Gesicht einer Putte oder eines Trinkers.
Es waren noch vier Tage bis Weihnachten, und das «Jerusalem Inn» war bestens für das Fest gerüstet: es strotzte von Dekorationen – altersschwache Lichterketten, Lamettakaskaden, staubige Stechpalmenkränze und eine lebensgroße Krippe in der Nische neben dem Kamin. Inmitten all dieser Pracht fand gerade eine ganz unweihnachtliche Partie Pool statt, und zwar zwischen einem stämmigen untersetzten Kerl, an dem flächendeckende Tätowierungen und eine schwere Lederweste ins Auge fielen, und einem drahtigen, schwarzhaarigen Mann mit einem Goldring im Ohr. Der Ring schien allerdings mehr Ausdruck modischen Geschmacks als Hinweis auf bestimmte sexuelle Vorlieben zu sein. Rechts neben dem Billardtisch stand eine quadratische Box mit einem Videospiel, dem sich ein junger Mann hingebungsvoll widmete. Unter einem dürren Mistelzweig war eine junge Frau mit Haifischgesicht gerade dabei, einen großen, unangenehm aussehenden Kerl ausgiebig zu küssen. Aber ihre Showeinlage kam nicht gegen den Lauch an, der – wie Jury Dickies langatmigem Geschwätz schließlich entnommen hatte – den ersten Preis im jährlichen Lauchzüchterwettbewerb gewonnen hatte.
Mehrere Leute kamen herüber, um Dickie auf die Schulter zu klopfen.
«Letztes Jahr hättst du schon gewonnen, Dickie, wenn du ihn vorher nur ’n bißchen
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