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Inspector Jury bricht das Eis

Inspector Jury bricht das Eis

Titel: Inspector Jury bricht das Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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abgewischt hättst.» Drinks wurden ausgegeben, die offenbar alle auf Dickies Rechnung gingen. Nach Jurys Gefühl hätte es eher andersherum sein müssen. Er bezweifelte, daß Dickies Geldbörse oft Futter bekam, und doch war dieser die Großzügigkeit selbst. Aber knapp bei Kasse waren wohl alle hier.
    Das «Jerusalem Inn» war trotz des ganzen Weihnachtsbrimboriums eine Arbeiterkneipe. In gewisser Weise war das ganz erfrischend nach dem Museumsmuff der Pubs im Londoner West End mit ihrem roten Plüsch, den elektrifizierten Gaslampen, den vergoldeten Spiegeln und dem sonstigen wurmstichigen Bombast der Viktorianischen Ära. Auch die Ramschkollektion ländlicher Gastlichkeit fehlte – weder gab es Zinnkrüge und Messingteller, noch hingen die unvermeidlichen Jagdszenen über bestickten Polstern. Hier standen lange Bänke an den Wänden. Drei alte Männer hatten sich auf einer dieser Bänke niedergelassen und sahen so aus, als gehörten sie zu dem Krippenensemble neben dem Kamin.
    Die Gesichter an der hufeisenförmigen Bar in der Mitte des Raumes spiegelten alle ziemlich deutlich ein und dasselbe Schicksal wider – die hoffnungslose Existenz zwischen Arbeitslosigkeit und Geldmangel. Jury war sicher, daß manche dagegen aufbegehrten. Andere hatten sich zähneknirschend in ihr Los gefügt, und einige – die jüngeren – betrachteten die Arbeitslosigkeit als eine Art zu leben, die ihnen in die Wiege gelegt worden war. Arbeit und Wetter waren die vorherrschenden Gesprächsthemen.
    Jury wußte, daß er von jedem hier eingehend gemustert worden war, und doch hatte er kein direkt auf sich gerichtetes Auge bemerkt. Nachdem sich ihr Interesse an dem Riesenlauch und dem knutschenden Liebespaar erschöpft hatte, nahmen die Leute ihre Gespräche wieder auf. Gedämpftes Gemurmel wie in einer Kirche kurz vor dem Gottesdienst erfüllte bald den ganzen Raum. Ein verkommener Geselle saß schweigsam über einem Wörterbuch und ließ gelegentlich ein lautes Räuspern vernehmen oder pochte mit seinem Stock auf die blanken Dielen, wenn er eine Seite umblätterte. Ein anderer Mann saß im Anorak da und las in einem dicken Buch; neben ihm hockte zitternd ein nervöser Windhund. Die Pool-Spieler entschlossen sich zu einem neuen Spiel und griffen wieder zu ihren Queues.
    Der Wirt stand unentschlossen herum, in der Hand den Drink, den Dickie ihm spendiert hatte. Offenbar hatte Jury seine Neugier geweckt.
    «Sind Sie von hier?» fragte er schließlich.
    «Nein. Aus London.»
    Der Wirt tat überrascht. «Zwei Straßen hinter Harrod’s ist’s für euch doch schon wie hinterm Mond, hab ich recht?» Er lächelte, um dem groben Scherz die Spitze zu nehmen.
    «Haben Sie viele Gäste hier draußen?»
    «Und ob. Sie würden sich wundern. Unten an der Straße liegt Spinneyton, da kommen die meisten her. Geld ist nicht viel da, nur eben das bißchen Arbeitslosenunterstützung. Die meisten Zechen sind geschlossen, und die Werften in Newcastle sind fast alle stillgelegt.» Er schüttelte weise den Kopf. «Ich selber komm aus Todcaster. Diesen Laden hab ich erst seit sechs Monaten. Es ist schwer, von dem Haufen hier akzeptiert zu werden. Ziemliche Sippenwirtschaft, wissen Sie?» Das letzte flüsterte er, als müßten London und Todcaster hier zusammenhalten; dann entfernte er sich, um die benutzten Gläser einzusammeln.
    Während er darauf wartete, daß der Wirt wieder eine freie Minute hatte, schlenderte Jury hinüber zum Kamin, um die Weihnachtskrippe zu begutachten. Die Blicke der drei alten Männer folgten ihm argwöhnisch. Ob man mir den Polizisten ansieht? fragte sich Jury. Er stieß einen Seufzer aus, als er die Krippe näher in Augenschein nahm. Ihr Zustand war schlichtweg bejammernswert. Doch wie um den dürftigen Eindruck wieder etwas wettzumachen, schlief zwischen zwei Tierfiguren – einer dreibeinigen Ziege und einem schwanzlosen Lamm – ein echter Terrier mit einem schwarz umringten Auge.
    Nur zwei der Heiligen Drei Könige waren anwesend, und denen hätte ein frischer Farbanstrich nicht geschadet. Maria war da, Joseph auch. Aber im Stroh, über das sie sich beugten, lag nichts.
    Etwas zupfte ihn am Ärmel, und eine helle Stimme sagte: «Ich mußte sie baden.»
    Jury drehte sich um und sah ein kleines Mädchen von sechs oder sieben Jahren, das zu ihm hochstarrte. Ihre Augen waren von dem gleichen klaren, fast glasigen Braun wie die der Puppe, die sie umklammerte. Die Puppe war sehr groß, hatte rot gefärbtes, verblichenes Haar und war

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