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Inspector Jury bricht das Eis

Inspector Jury bricht das Eis

Titel: Inspector Jury bricht das Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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wieder im Büro waren und auf bequemeren, wenn auch abgenutzten Stühlen vor einem kalten Kamin Platz genommen hatten.
    Sie zog ihre sandfarbenen Brauen hoch. «Ob ich sie mochte? Darüber habe ich mir keinerlei Gedanken gemacht. Milch?» Sie hatte ihm eine Tasse Kaffee angeboten.
    «Nein danke. Ich trinke ihn schwarz.»
    Das Mädchen, das ihnen den Kaffee gebracht hatte – es war dasselbe Mädchen, das Jury ins Büro geführt hatte –, wurde gnädig entlassen: «Du kannst jetzt gehen, Lorraine.»
    «Jawohl», murmelte Lorraine und nickte. Sie schien jedoch nicht gewillt, dem Befehl sofort nachzukommen, sondern spielte mit einer langen Haarsträhne und heftete den Blick hoffnungsvoll auf Jury. Er wußte nicht recht, worauf sie noch wartete, und bedachte sie daher mit einem Lächeln, wie schon einmal, als sie das Tablett auf den Tisch gestellt hatte. Damit schien er ins Schwarze getroffen zu haben, denn sie ging hinaus.
    «Wie alt ist sie?»
    «Sechzehn. Zugegeben, einige unserer Kinder sind wirklich Waisen. Lorraine ist schon ihr Leben lang bei uns. Sie ist ein wenig zurückgeblieben; wir haben große Mühe, ihr etwas beizubringen. Aber sie ist nicht die erste; wir hatten schon andere, traurigere Fälle hier.»
    «Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie viele hatten, die man als ‹glücklich› bezeichnen würde.»
    Sie zog es vor, den Einwand zu ignorieren. «Wir haben auch ganz gewöhnliche Schulkinder, die am Nachmittag nach Hause gehen.»
    «Sie wissen nicht zufällig, ob Helen Minton Feinde hatte?»
    «Nein, wieso? Ich meine, ich kann es mir nicht vorstellen. Wie kommen Sie bloß darauf?» Sie legte den Kopf schräg, und ihre Augen wurden schmal. «Sie wollen doch nicht etwa andeuten, daß an ihrem Tod etwas ungewöhnlich war?»
    «Wenn jemand im Schlafzimmer von Old Hall tot aufgefunden wird, halte ich das zweifellos für ‹ungewöhnlich›, Sie nicht?»
    «Sie war krank. Ich nehme an, ihr Herz hat in diesem Moment …» Miss Hargreaves-Brown zuckte die Achseln.
    «Wie lange war sie hier in der Gegend?»
    «Länger als zwei Monate, glaube ich. Halten Sie mich bitte nicht für undankbar, aber …»
    Als sie sich anschickte, den Wert der kleinen wohltätigen Dienste, die Helen Minton geleistet hatte, herunterzuspielen, fiel Jury ihr ins Wort: «Hat sie sonst etwas über ihre Krankheit oder über ihre Lebensumstände gesagt, das … tja … Licht auf die Umstände ihres Todes werfen könnte? Sie dürften sie mindestens ebensogut gekannt haben wie jeder andere hier. Helen Minton scheint ein mehr oder weniger einsamer Mensch gewesen zu sein.»
    «Ach, Sie haben sie also gekannt, Superintendent?»
    «Flüchtig.»
    «Dann haben Sie ja ein ganz persönliches Interesse an der Sache.» Diese Feststellung wurde in mißbilligendem Tonfall vorgetragen, so als habe ein Polizist kein Recht auf persönliche Motive.
    Jury konnte ihr nicht recht widersprechen. «Ja.»
    Sie steckte eine lose Haarsträhne in den Chignonknoten und sagte: «Es gibt nichts, was ich Ihnen sonst noch über Helen Minton erzählen könnte. Sie war aus London, mehr weiß ich nicht.» Und als sei es ihr gerade noch eingefallen, fügte sie hinzu: «Sie war recht attraktiv. Das heißt, ich könnte mir vorstellen, daß sie auf den einen oder anderen so gewirkt hat.» Sie vermied es, dabei Jury anzusehen, und nahm einen Schluck aus ihrer Tasse.
    Vielleicht wußte sie wirklich nicht mehr, doch Jury hatte das Gefühl, daß sie etwas verschwieg. Es war ihm jedoch klar, daß er nicht ein einziges weiteres Wort aus ihr herausbringen würde.
    «Vielen Dank, Miss Hargreaves-Brown. Es war sehr freundlich von Ihnen, daß Sie mir soviel Zeit geopfert haben. Da ich weiß, wie wertvoll Ihre Zeit ist, will ich Sie jetzt nicht länger belästigen.»
    Lorraine führte ihn hinaus und sah ihm von dem dunklen Eingang aus nach.
     
    Er marschierte die lange Auffahrt hinunter, und als er an die Pforte kam, ertönte wieder das Summen. Er zog das Eisentor auf, schritt hindurch und ließ es hinter sich ins Schloß fallen.
    «Leb wohl!»
    Er drehte sich um. Die Stimme kam – natürlich, woher auch sonst? – aus dem Baum. Dort oben, fast ganz verborgen im dichten Gewirr der Äste, lauerte die kleine dunkle Gestalt wie ein Gespenst aus der Kindheit.
    Jury winkte.
    «Leb wohl und Gott segne dich», sagte der Baum.
    «Leb wohl.»
    «… und Gott segne dich!» rief der Baum.
    «Gott segne dich», sagte Jury, bevor er sich abwandte.

5
    In der Dunkelheit konnte er die

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