Inspector Jury bricht das Eis
Rätsel entdecken. Und tatsächlich schien sich in ihrem Gedächtnis etwas zu regen, als ihr Blick zwischen den drei alten Stammgästen, dem Billardtisch, der Krippe und Helens Bild hin und her sprang. Sie biß sich auf die Lippen, und Jury fürchtete schon, sie würde die Aussage ihres Mannes bestätigen. Aber sie überraschte ihn: «Sie war letzten Dienstag hier, das muß so ungefähr um neun oder zehn gewesen sein. Sie hat ein Newcastle Brown Ale bestellt, und ich hab irgendwie gelacht und auch gefragt, ob sie denn weiß, wie stark das ist, und dann hat sie gelacht und gesagt, ja, sie hätt es schon mal getrunken. Ich wußte, daß sie nicht von hier war, wegen ihrem Akzent – sie hat genauso geredet wie Sie –, und ich dachte, sie kommt wahrscheinlich aus London. Mir hat’s gefallen, wie sie an der Bar stand und sich gar nichts draus zu machen schien, daß das ‹Jerusalem› nicht das Ritz ist. Dann hat sie ’ne Weile beim Pool zugeschaut, und Clive» – hier wies sie mit dem Kopf auf eine Tür, die wohl in ein Hinterzimmer führte – «hat ihr noch ’n Bier spendiert. Sie hat sich ein bißchen mit der Göre unterhalten, mit Chrissie» – über ihr Gesicht huschte ein Lächeln, das mindestens so strahlend war wie die Weihnachtsbeleuchtung im Raum –, «und dann hat sie Clive auch einen Drink spendiert. Das dritte Bier wollte sie wohl schon nicht mehr; sie hat kaum was davon getrunken, aber sie wußte, was sich gehört. Ich meine, als Frau hätte sie das natürlich nicht tun brauchen, aber sie hat’s trotzdem getan, und das find ich gut. Sie hat auch mit Robbie geredet …» Sie sah den großen jungen Mann an, der immer noch mit dem Videospiel beschäftigt war. Robbie ist ’n bißchen – einfältig. Das Wort kam Mrs. Hornsby nur schwer über die Lippen. «Aber er ist der hilfsbereiteste Junge, den man sich vorstellen kann. Er hat hier sein Zimmer und kriegt ein bißchen Geld dafür, daß er saubermacht.» Sie runzelte die Stirn. «Tut mir leid, aber sonst fällt mir nichts ein.»
Jury starrte sie mit großen Augen an, und ihr Mann klopfte ihr auf die Schulter. «Schlaues Mädel, meine Nell. Der macht keiner was vor.»
«Wenn jeder Zeuge so wäre wie Sie, Mrs. Hornsby, hätten wir in London bald alle Verbrecher hinter Gittern.»
Mrs. Hornsby errötete heftig und versuchte, ihre Augen von Jury loszureißen, stellte dann aber offenbar fest, daß er – verglichen mit dem Rest der Welt – einen durchaus angenehmen Anblick bot. Sie lächelte wieder ihr strahlendes Lächeln. Jury gab auch ihr einen Drink aus.
«Vielleicht weiß Clive was.» Sie deutete auf die Tür, durch die ihre Tochter eben hinausgerannt war. «Im Hinterzimmer ist gerade ein Spiel im Gange. Clive ist auch dabei. Und vielleicht hat Marie mit ihr gesprochen. Marie quatscht jeden Neuen an, um Zigaretten zu schnorren und zu erzählen, wie schwer sie’s hat.»
Marie entpuppte sich als die Frau mit dem Haifischgesicht; sie sah gar nicht so übel aus, aber in ihrer Gegenwart beschlich einen das dumpfe Gefühl, man müsse seine Brieftasche festhalten. Als Jury sich ihr vorstellte, rückten die anderen neugierig näher. Man konnte ihnen das wohl kaum übelnehmen: in der Eintönigkeit ihrer Tage, die sie mit Pool, Darts und Nichtstun verbrachten, war jede Abwechslung willkommen. Sogar ein herumschnüffelnder Bulle war besser als die Nietenbude, solange er seine Nase nicht in ihre privaten Angelegenheiten steckte. Jury hätte wetten können, daß die meisten von ihnen Alkoholiker waren, die unaufhaltsam dem Ruin entgegenstürzten. Der Suff war alles, was sie hatten, und die wöchentliche Stütze nur ein anderes Wort für Freibier.
«Sie hat gesagt, daß sie in Washington wohnt.» Marie nahm bereitwillig eine Zigarette entgegen und lehnte sich halb an die Bar, halb an Jurys Schulter. Für einen Drink, so hoffte Jury, würde ihr bestimmt etwas einfallen, das immerhin einen gewissen, wenn auch fragwürdigen Informationswert hätte. Er spendierte ihr ein Carlsberg, aber es half ihrem Gedächtnis leider nicht auf die Sprünge.
Jury durchbrach den Halbkreis der Neugierigen, ging hinüber zum Videospiel und setzte sich zu Robbie, dessen schlaffes Gesicht einen Hauch von Schönheit vermuten ließ, unausgeprägt und vage wie ein Spiegelbild auf der Wasseroberfläche. «Heißt du Robbie?» Der Junge lächelte. Er war um die Zwanzig und sah dumpf drein, machte aber einen sehr freundlichen Eindruck. Jury zeigte ihm das Foto. Robbie fuhr aufgeregt mit
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