Inspector Jury bricht das Eis
Und Grace Seaingham wollte zum Gottesdienst in die dortige Kathedrale. Ich möchte noch einmal mit ihr allein sprechen.»
«Aha. Aber wer zum Teufel ist Robbie?»
«Robin Lyte, der Junge, nach dem Helen Minton wahrscheinlich gesucht hat. Ich glaube, er ist ihr Sohn.» Jury sah versonnen über den Schnee auf die Kapelle. Seine Gedanken kreisten immer noch um den vierten Buchstaben.
20
Das kleine Dorf Spinneyton lag, vielleicht weil es Heiligabend war, noch in tiefem Schlaf. Außer einem schmuddeligen kleinen Kind war weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Das Kind baute einen genauso schmuddeligen, traurig dreinblickenden Schneemann, der sich bedrohlich mit dem flachen, halbverfallenen Haus hinter ihm um die Wette zur Seite neigte.
Das Spinney-Moor lag öde und nebelverhangen da; einzelne Nebelfetzen drifteten über die Straße.
Tommy starrte auf diese trostlose Leere und zog fröstelnd die Schultern ein. «Ich bin ja gerne mitgefahren, aber was soll schon dabei herauskommen, wenn ich mit Robbie rede?»
«Na, du hast doch gesagt, du würdest ihm das Spiel beibringen. Ich nehme an, er hat Vertrauen zu dir. Vielleicht erinnert er sich doch an mehr, als er denkt. Und vielleicht erzählt er dir was», sagte Jury.
«Das bezweifle ich. Armer Robbie …» Er starrte wieder auf das Moor hinaus. «Sieht aus, als würden da Gespenster umgehen, was?»
«Tun sie wohl auch», sagte Melrose schläfrig vom Rücksitz.
«Eine Grabesstille», sagte Tommy.
«Das Dorf ist wahrscheinlich völlig ausgestorben, weil alle im Torfmoor abgesoffen sind. Aufgedunsene Leichen mit grünlichen Gesichtern werden aus den Sümpfen steigen und uns alle im Schlaf erwürgen. Solange sie auch Agatha den Garaus machen, will ich mich da gar nicht beklagen.»
«Sie schäumen ja geradezu über vor guter Laune, was?» bemerkte Jury, als er den Wagen im Hof des «Jerusalem Inn» zum Stehen brachte.
Dach und Regenrinne des Hauses waren wie eine Hochzeitstorte mit Zuckerguß überzogen. Ein einzelner Sonnenstrahl brachte den unberührten Schnee zum Glitzern und ließ das Eis auf den unterteilten Fensterscheiben wie Sterne aufglänzen. Dahinter erschien Robbies Gesicht, das durch das gewellte alte Glas zu einer Fratze verzerrt wurde. Als Jury klopfte, verschwand es, doch es dauerte eine Weile, bis Robbie ihnen schließlich die Tür öffnete.
«Hallo, Robbie», sagte Jury. «Ich weiß, ihr habt noch nicht auf, aber wir müssen dringend mit den Hornsbys sprechen. Wir sind von der Polizei, verstehst du?» Jury zeigte dem verstört dreinsehenden Jungen seinen Ausweis und sagte beruhigend: «Routine, nichts weiter, Robbie.»
Das braune Haar, das sich der Junge aus der Stirn strich, die hellbraunen Augen, das Gesicht, das ihm anfangs nur leer vorgekommen war, vielleicht weil es so weich und formbar war wie Wachs – in alldem glaubte Jury nun – oder bildete er sich das nur ein? – Spuren einer Ähnlichkeit mit Helen zu entdecken, gerade als würde ihr Gesicht unter der Wasseroberfläche vorübertreiben.
Nell Hornsby kam durch den Vorhang, der den kleinen Nebenraum im hinteren Teil der Bar abtrennte. «Oh, hallo! Ist was passiert?»
«Keine Sorge. Es ist nichts passiert. Ich würde mich nur gern ein bißchen mit Ihnen unterhalten.»
«Klar. Ich schau nur schnell nach Chrissies Brei.» Sie verschwand wieder durch den Vorhang.
Der ungelenke, kräftig gebaute Robbie fegte lethargisch den Boden. Robin … ein häufiger Deckname für Kriminelle, Außenseiter, Vogelfreie, dachte Jury. Erst als Tommy etwas von einer Runde Snooker sagte, hellte sich seine Miene auf, und er arbeitete schneller.
Melrose zündete sich eine Zigarre an und fragte leise: «Wo ist da der Zusammenhang? Ich meine, zwischen diesem ungeschlachten Jungen, Ihrer Helen Minton und … allem anderen?»
«Frederick Parmenger ist das Bindeglied.»
«Parmenger? Und wieso?»
«Ich denke, er ist Robbies Vater. Von einer Haushälterin, die jahrelang bei den Parmengers gearbeitet hat, wissen wir, daß Edward Parmenger – das ist Fredericks Vater, der die Pflegschaft für Helen übernommen hatte – Amok lief, als er erfuhr, daß sie schwanger war. Ihm sträubten sich die Haare angesichts der Vorstellung, daß sein Sohn und Helen –»
«Das ist nicht gerade verwunderlich, bedenkt man ihr Alter und die Umstände. Kaum jemand wäre erfreut, wenn er entdeckt, daß sein Mündel guter Hoffnung ist.»
«Vor allem, wenn er noch viktorianische Moralvorstellungen hat. Aber wir leben nicht
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